»schmutzige Wäsche – und alle Platten von Nancarrow«

György Ligetis Klavierkonzert &
Studies for Player Piano von Conlon Nancarrow

Text: Thilo Braun

Leben und Charaktere von György Ligeti und Conlon Nancarrow sind so konträr, dass die Begegnung beider Komponisten eine kräftige Portion Zufall braucht. Dass sich beide später als Seelenverwandte bezeichnen werden, erscheint auf den ersten Blick beinahe unglaubwürdig.

Conlon Nancarrow wächst in Arkansas auf. Er spielt als Trompeter in Jazzbands, lernt ab 1933 eher halbherzig Musiktheorie in Boston, arbeitet dann einige Jahre überwiegend als Orchesterdirigent und komponiert nebenbei. 1937 stürzt er sich freiwillig in den spanischen Bürgerkrieg und bekämpft dort das faschistische Regime Francos. Eine Radikalität, die bei den amerikanischen Behörden in seiner Heimat nicht gut ankommt. Man verweigert ihm bei seiner Rückkehr einen neuen Pass, woraufhin Nancarrow gezwungenermaßen nach Mexico emigriert.
György Ligeti dagegen versucht, Krieg und politischer Willkür in seiner Jugend möglichst fern zu bleiben. Das gelingt ihm nur teilweise: Seine Kompositionsstudien in Budapest werden unfreiwillig unterbrochen, weil er 1944 in die ungarische Armee eingezogen wird. Später, im stalinistischen Ungarn der Nachkriegszeit, fühlt er sich zunehmend in seiner künstlerischen Freiheit eingeschränkt, flieht schließlich nach Wien und findet dort ein neues Zuhause.

Während Ligeti, weltoffen und sympathisch, schnell Anschluss findet, kapselt sich Eigenbrötler Nancarrow in seinem Exil weitestgehend von der Öffentlichkeit ab. In Mexico City findet er keine Interpreten, die seinen perfektionistischen Ansprüchen (und rhythmisch hochkomplexen Werken) gerecht werden. Also beginnt er für ein Instrument zu komponieren, das den Musiker als unkalkulierbare Fehlerquelle schlichtweg übergeht: das Player-Piano. Wie bei einer Drehorgel kann bei diesem Instrument durch das Einlegen einer Notenrolle ein Musikstück gestartet werden, woraufhin eine Mechanik automatisch die Tasten des Klaviers betätigt. Das erlaubte Nancarrow eine kompositorische Präzision und Komplexität, die weit über das hinausgeht, was ein menschlicher Spieler am Klavier leisten kann.

Oft hat man als Hörer das Gefühl, als hätte jemand drei Lieder zugleich gestartet und dann noch am Geschwindigkeitsrad gedreht. Nancarrow kombiniert dabei oft verschiedene Zeitebenen, lässt Melodien etwa im Verhältnis 60:61 abspielen, sodass im Zusammenspiel verblüffende Rhythmuseffekte entstehen.
Ligeti dagegen experimentiert neben der elektronischen Musik im WDR-Studio mit der klanglichen Vielschichtigkeit großer Orchester. Als sein Durchbruch und wohl bis heute populärstes Werk kann Atmosphères gelten, in dem er 1961 die Orchesterstimmen immer weiter vereinzelt, sodass an Stelle von synchron geführten Stimmgruppen eine Collage eigenständiger Instrumentalisten tritt. Mikropolyphonie nennt er dieses Prinzip, das sich auch in seinem Klavierkonzert nachvollziehen lässt.

Über Nancarrow stolpert Ligeti erstmals 1980, als ihm eine Partiturseite seiner Studie Nr.36 in die Hände fällt. Kurz darauf entdeckt er in einem Pariser Schallplattenladen Aufnahmen Nancarrows und kauft ein paar. Als er auf dem Rückweg nach Wien auf einer Autobahnraststelle bei Solingen übernachtet, wird das Auto aufgebrochen. Verschwunden sind am nächsten Morgen Platten mit Werken von Messiaen, jiddischer Folklore und Gamelan-Musik sowie seine gebügelte Wäsche. Hinterlassen haben die Diebe lediglich schmutzige Wäsche – und alle Platten von Nancarrow.

Zurück in Wien hört Ligeti die Platten und ist völlig aus dem Häuschen. »Kennst Du den amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow, der in Mexico City lebt?«, fragt er den Dirigenten und Pianisten Mario Bonaventura in einem Brief: »Nun, höre zu: nach den wenigen Studies for Player Piano von Nancarrow, die ich gehört habe, versichere ich mit aller Ernsthaftigkeit, dass Conlon Nancarrow der bedeutendste lebende Komponist ist. Wenn J.S. Bach statt mit dem protestantischen Choral mit Blues, Boogie-Woogie und lateinamerikanischer Musik aufgewachsen wäre, er hätte wie Nancarrow komponiert.«

Was ihn so für Nancarrow ins Schwärmen brachte, war die Tatsache, dass er im Bereich des Player Piano ganz ähnliche Dinge versuchte, die Ligeti mit anderen Mitteln auch in eigenen Werken erprobt hatte: die Gleichzeitigkeit verschiedener temporaler wie melodischer Ebenen. Ligeti schreibt Nancarrow einen Brief. Er schickt ihm eigene Platten, gesteht seine Bewunderung und schlägt ein persönliches Treffen vor. Nancarrow ist angesichts der Verehrung eines Fremden, dessen Name er nur aus Zeitschriften kennt, skeptisch: »Ich wusste so wenig über ihn – er hätte aus den verschiedensten Gründen berühmt sein können, etwa weil er der erste gewesen sein könnte, der Rülpser und Fürze synchronisiert hat.« Doch als Nancarrow die Platten hört, verwandeln sich auch seine Vorbehalte in Bewunderung. Einer Freundin schreibt er 1982: »Ich war regelrecht überwältigt. Dies sind keine Clownerien à la Cage, das ist höchst originelle und eindrucksvolle Musik.« Beim ISCM-Festival in Graz kommt es kurz darauf zum ersten persönlichen Treffen und im Zuge einer gemeinsamen Reise, die auch in die Studios für elektronische Musik in Köln und Paris führt, zu einer tiefen Freundschaft.  Ligeti nutzt fortan seine Berühmtheit und Bekanntschaften, um auf Nancarrow aufmerksam zu machen. 1988 veranstaltet er mit dem WDR in Köln sogar eine eigene Konzertreihe, in der unter dem Motto »Musik und Maschine« seine und Nancarrows Werke gegenübergestellt werden.

Auch Ligetis 1985 und 1988 komponiertes Klavierkonzert ist wohl von Nancarrow beeinflusst. Noch ausgeprägter als in früheren Werken fällt die Gleichzeitigkeit eigenständiger Pattern auf, die sich nicht nur melodisch, sondern auch in der Wahl von Rhythmus und Geschwindigkeit unterscheiden. Während der Einsatz des Klaviers im ersten Satz noch ein rhythmisches Grundmuster erwarten lässt, stiftet der Einsatz immer neuer Instrumentengruppen zunehmend Verwirrung. Als Hörer ist es nicht möglich, diesem Durcheinander verschiedener Tempi, Tonarten und Anmutungen zu folgen, was aber auch nicht das Ziel Ligetis darstellt. Im Programmheft zur Uraufführung schreibt er: »Wenn diese Musik richtig gespielt wird, also in richtiger Geschwindigkeit und mit richtiger Akzentuierung innerhalb der einzelnen Schichten, wird sie nach einer gewissen Zeit ‚abheben’ wie ein Flugzeug nach dem Start: Das rhythmische Geschehen, da zu komplex um im Einzelnen verfolgt zu werden, geht in ein Schweben über.« Dieses Prinzip zieht sich durch das ganze Werk. Der zweite Satz kombiniert die temporale Vielschichtigkeit mit dem Kontrast hoher und tiefer Klänge sowie dem unberechenbaren Wechsel stiller Passagen mit alarmierenden Einsätzen im Fortissimo. Im dritten Satz schichtet Ligeti verschiedene Rhythmen übereinander, im vierten sorgt die kontinuierliche Zunahme eigenständiger Instrumentengruppen für ein Gefühl von Beschleunigung, während das Tempo selbst unverändert bleibt. Im Fünften scheinen die vorher etablierten Muster schließlich zusammenzufallen, wobei es dem Hörer überlassen bleibt, einzelnen Melodien nachzuforschen oder sich vom Strudel unterschiedlicher Klangeindrücke fortreißen zu lassen.