Erlösung darf es nicht geben

Thilo Braun über »Migrants« von Georges Aperghis

Mit der Finsternis kommen die Dämonen, kriechen aus den Gruften der Erinnerung. Das flackernde Streichholzlicht, von mageren Gestalten umgeben, erlischt – der Spuk beginnt. „Keine Bewegung!“, sagt eine Stimme. Überfülltes Schlauchboot. Schaukeln, schwitzende Körper, mehrere Hundert. „Wir werden es heute Nacht nicht schaffen.“

Wie herausgebrochene Mosaiksteinchen irren solche Satzfragmente durch den zweiten Satz von migrants. Wir blicken in die Köpfe von Geflüchteten, auf einem Rastplatz irgendwo unter Bäumen kauern sie in der Dunkelheit und erleiden Flashbacks zurückliegender Traumata: „Es war nicht Schlaf – es wirkte unnatürlich, wie ein Traum“, heißt es im eingeschobenen Text von Joseph Conrad.

Den Impuls für migrants gab die Flüchtlingskrise 2015. Komponist Georges Aperghis wollte mit seiner Musik ein Mahnmal setzen, einerseits für die „Toten, die an Europas Küsten angespült werden“, aber auch für die „vielen Lebenden, die ohne Identität durch Europa irren und offiziell nicht mehr als lebendig zu erkennen sind“. Ein Stück für die Vergessenen und Verschollenen. Doch so sehr ihn das Thema umtrieb, der Zugriff fiel schwer.

Aperghis sah Dokumentationen, las Tagebucheinträge, verfolgte Fluchtrouten – und konnte doch nichts davon für seine Komposition verwenden. Es war zu konkret: „Allein die Vorstellung, ihre Worte zu Papier zu bringen, während diese Menschen gerade ertrinken, andere noch sterben werden, fand ich unwürdig. Ich konnte daraus doch nicht eine Art ‚Geschenkpapier‘ machen!“

Also griff Aperghis auf ein älteres Sujet zurück, das „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad. Die Erzählung aus dem Jahr 1899 prangerte Kolonialverbrechen in Zentralafrika an. Bezogen auf die Fluchtbewegungen unserer Tage liest sie sich erschreckend aktuell: „Sie waren keine Feinde, sie waren keine Verbrecher, sie waren nun nichts Irdisches mehr – nichts als schwarze Schatten, krank und verhungert, die durcheinander in dem grünen Dämmern lagen.“ Auf solche krassen Sätze treffen in Aperghis‘ Komposition Fragmente aus heutiger Zeit, etwa oben zitierte Momentaufnahmen von einer dramatischen Überquerung des Mittelmeers im Schlauchboot.

Diese thematische Basis ist schon harte Kost. Zusammen mit den Klängen von Georges Aperghis wird daraus ein umso schwerer zu verdauender Brocken. Denn permanent herrscht hier eine Atmosphäre von Angst und Panik. Gespenstische Streichersounds umkreisen einander in Eiseskälte, Sopranstimmen stottern in höchster Lage, gefangen in einem psychotischen Taumel, ununterbrochen klopft, rauscht, wummert es im Schlagwerk. Wie eine Sturmflut verschlingen Clusterwellen wimmernde Einzelstimmen, das Trommelfell schmerzt vor grellen Tönen. Siebzig Minuten, fünf Sätze lang, geht das so, mal tosend laut, mal totenstill, niemals entspannt. Dabei würde man sich so sehr etwas Ruhe wünschen. Um einmal durchzuatmen. Um diese Wucht an Klängen und Emotionen sacken zu lassen und etwas Schönes zu hören. Nur einen Moment lang, um die omnipräsente Dissonanz auszugleichen. Doch vermutlich ist es genau diese Rettung in wohlige Harmonie, die Aperghis seinem Publikum nicht gönnen möchte. Es kann, es darf keinen Rückzugsort geben in diesem Mahnmal für Menschen auf der Flucht. 

Die Schönen Künste scheinen besonders anfällig zu sein für trügerische Erlösungsfantasien. Für die strahlende Utopie werden Schmerzen schnell überblendet oder idealisiert. Einzelschicksale erstarren zu dramaturgischen Bausteinen einer Erzählung, die zwar aufregend klingt, aber den Bezug zur Wirklichkeit verliert. Solch falscher Theaterzauber war es, der Georges Aperghis einst von den großen Bühnen der Pariser Opernwelt in die Banlieues der Vorstädte trieb. 1976 gründete er das Atelier Théâtre et Musique (ATEM), um in der Arbeit mit Laienschauspielern eine Kunst zu schaffen, die vielleicht weniger prunkvoll war, aber umso näher am Leben.

Es war ein Kreativlabor, um die Beziehung zwischen Klang, Emotion und Sprache zu erforschen. Als Keimzellen der Arbeiten dienten oftmals Alltagssituationen, die durch spielerische Weiterentwicklung künstlerische Formen annahmen. Auf wie viele unterschiedliche Weisen lässt sich ein Satz aussprechen? Gibt es eine Grenze zwischen Sprachmelodie und Gesang? Welche Rolle spielten Gestik und Mimik dabei? Eine besondere Leidenschaft entwickelte Aperghis (der übrigens studierter Schlagzeuger ist) für den Einsatz von Sprache als Rhythmuselement, indem er etwa Wortsilben zu dadaistischen Bandwurmsätzen formte. Wer hätte gedacht, was für spannende Geschichten sich erzählen ließen selbst ohne Semantik, einfach durch die Art und Weise, wie gesprochen wurde: geflüstert, genuschelt, geschrien, gekichert, gepresst... Tempo, Stimmfärbung und Artikulation wurden zu Stellschrauben für eine Rede mit unendlicher emotionaler Varianz.

Auf diese Erfahrungen baut Aperghis mit migrants auf. Auch hier singen die beiden Solistinnen phasenweise in einer Fantasiesprache. In panischem Gestammel werden ihre Ängste spürbar, zugleich zeigt uns Aperghis, dass sie in der Fremde „nicht verstanden“ werden. Im Gegensatz dazu stehen Sprechertexte, die mit geradezu bürokratischer Nüchternheit verschiedene Szenen schildern. Als müsste jegliche Emotion weichen, um die Fassung zu bewahren angesichts so viel Schreckens.

Auch das Orchester spricht eine deutliche Sprache. Aperghis teilt die Streicher in bis zu fünfundzwanzig Individuen, von denen jedes eine eigene Leidensgeschichte erzählt. Die Beschaffenheit der Klänge gleicht dabei Körpern: zittrige Hände flehen um Hilfe, schmerzverkrampft stampfen Melodien vorwärts, erschlaffte Farben verraten die Erschöpfung. Im dritten Satzes vereint Aperghis alle Stimmen zu einem tosenden Chor, der die Strapazen einen endlosen Flucht nochmals vor Augen führt – um daraufhin den Menschen anzusehen, der solches durchleiden musste: „Es war unbegreiflich, wie er hatte leben, wie er hatte so weit kommen können“, heißt es im Text, während geisterhafte Liegetöne durch die Streicherstimmen sirren. Eine Kinderstimme antwortet: „Ich ging ein wenig weiter, und dann noch ein wenig weiter“ – in ihrem verlorenen Sprechgesang klingt sie dabei alles andere als kindlich – „bis ich nun so weit gekommen bin, daß ich nicht mehr weiß, wie ich jemals zurückkehren soll.“ 

Der vierte Satz ist ein musikalisches Nachdenken aus der Distanz: eine Solo-Bratsche erinnert mit Motiven an vorherige Szenen, zunächst mit ungreifbaren, nebligen Gedankenfäden. Doch mit der Zeit drängen die Emotionen wieder an die Oberfläche, mit Wucht brechen alte Wunden auf. 2019, ein Jahr nach der Uraufführung, hat Aperghis diesen vierten Satz ergänzt, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Problematik nicht verschwunden war, auch wenn die mediale Aufmerksamkeit abgenommen hatte. Der 2021 entstandene fünfte Satz schließlich ist ein Aufschrei gegen diese Ungerechtigkeit. Wie das Abbild einer gefühlskalten Welt walten maschinenhafte Kräfte im Orchester, dazwischen gellen Schmerzensschreie. Eine Handlungsanweisung liefert Aperghis damit nicht. Aber er zwingt uns zur Reflexion darüber, ob wir überhaupt noch hinhören, wenn jemand um Hilfe ruft.

Thilo Braun