die Schönheit der Dissonanz erkennen
Fürchtet euch nicht!

Polyfusion als Ideal – ein Text von Thilo Braun

Text: Thilo Braun

Polyfusion ist ein Ideal. Eine Wortschöpfung aus »Polyphonie«, dem musikalischen Prinzip der Mehrstimmigkeit, und »Fusion«, dem Verschmelzen in einem neuen Ganzen. Mehrstimmigkeit allein kann schließlich ziemlich unangenehm werden, sobald die Stimmen vergessen, aufeinander zu achten. Um Chaos zu vermeiden, gibt es in der Musik Regeln, die das Zusammenspiel unterschiedlicher Stimmen ordnen. Eine polyphone Stimmführung des Barock folgt etwa den Regeln des Kontrapunkts. Das bedeutet etwas vereinfacht, dass es an Stelle von Solist und Begleitung mehrere gleichberechtigte Stimmen gibt und dass ein Gleichgewicht hergestellt wird, indem eine Stimme in die Tiefe wandern soll, wenn die andere nach oben steigt. Auch Dissonanzen müssen nach klaren Kriterien wieder zur Konsonanz aufgelöst werden. Vorübergehend entstehen zwar Spannungen (die auch durchaus erwünscht sind), am Ende des Satzes bleibt aber immer die Harmonie gewahrt.

Wäre das nicht eine perfekte Vision für das gesellschaftliche Zusammenleben? Faire Regeln für alle, die zur einvernehmlichen Lösung von Spannungen führen und eine Gemeinschaft in Frieden und Harmonie ermöglichen? So schön diese Vorstellung klingen mag, so hoch ist der Preis, den ihre Umsetzung fordert. Denn reine Harmonie kann es nicht geben ohne den Verlust von Freiheit.

Faire Regeln für alle gibt es nur in der Theorie. Wer die Mehrstimmigkeit nicht mit Gewalt zur Harmonie zwingen will, muss akzeptieren, dass Dissonanzen bestehen bleiben. Das schmerzt. In der Gesellschaft ebenso wie in der Musik, wo unser Ohr nach Wohlklang verlangt. Es ist spannend zu beobachten, dass die Befreiung vom Zwang des harmonischen Gerüsts gleichzeitig die Entfremdung der zeitgenössischen Musik von der Allgemeinheit bedeutet hat. Kann man es den Menschen verübeln? Chaos und Spannung gibt es schließlich im Alltag schon genug, darf da nicht wenigstens in der Kunst ein letzter Rest Harmonie und Ordnung erwartet werden?

Wer so argumentiert, degradiert Kunst zur Ablenkungsdroge. Sie soll uns einen schönen Trip bescheren, Abwechslung bieten, wohltun. Natürlich kann Musik diese Wünsche erfüllen, das ist eine ihrer Stärken. Doch wenn wir ihr die Chance dazu geben, kann sie uns auch lehren, die Schönheit der Dissonanz zu erkennen. Die Grenzüberschreitung als Nervenkitzel, nicht als Gefahr zu verstehen und staunend Reizüberflutung über uns ergehen zu lassen, statt sie zu fürchten. Vielleicht geht es darum, das Wechselspiel lieben zu lernen, Chaos durch Regeln zur Harmonie zu führen, um sie dann, im Namen der Freiheit, wieder zu durchbrechen. Das Ideal ist eine Polyfusion.