»Da steckt ein gewisses Risiko drin."

Der Geiger Ilya Gringolts im Interview

Du spielst in diesem Programm als Solist nicht gemeinsam mit dem Ensemble, sondern ihr teilt die Concerti Grossi und die Capricen untereinander auf. Ist das auch für dich ungewöhnlich?

Sehr ungewöhnlich, so etwas habe ich noch nie gemacht. Ich schätze das Ensemble Resonanz, und die Zusammenarbeit macht immer sehr viel Spaß – insofern ist es fast schade. Andererseits ist es ein reizvolles Konzertprogramm für mich: Es gibt ganz viel Repertoire, das nicht so häufig gespielt wird, und das in diesem Zusammenhang von Concerti Grossi und italienischem Virtuosentum in einem ganz anderen Licht gezeigt wird. Die Werke von Paganini hört man natürlich ab und zu in Konzerten, aber die Stücke von Locatelli, Sciarrino und Tartini kommen fast nie in Konzertprogrammen vor. Dabei sind alle Stücke sehr speziell und von der Gattung her zum Teil bahnbrechend.

Du hast die Werke, die du spielst, gemeinsam mit Tim-Erik Winzer zusammengestellt. Wie seid ihr vorgegangen?

Viele Ideen kamen von Tim-Erik. Ich wusste beispielsweise von Tartinis Piccolosonaten, hatte aber noch keine davon gespielt. Das war also für mich spannend, auf diese Weise ein neues Repertoire zu entdecken. Tim-Erik und ich sprachen das erste Mal direkt vor dem ersten Lockdown darüber, da hatte ich dann plötzlich viel Zeit, mich sehr intensiv mit den Stücken auseinander zu setzen. Das waren an die 100 Seiten von Manuskripten, die ich durchgearbeitet habe, denn die meisten Piccolosonaten sind nur in Form von Manuskripten erhältlich. Es gehörte also auch ein bisschen Archäologie dazu, die Noten zu recherchieren und zu verstehen, was wozu gehört.

Und die neueren Werke?

Sciarrino war auch eine Anregung von Tim-Erik. Wobei ich seine Kompositionen regelmäßig spiele, oft als Begleitstücke zu Paganini. Sie sind direkt von Paganini inspiriert, wobei die Klangwelt dabei eine ganz andere ist. Aber seine Art und Weise, die Geigenvirtuosität aufzugreifen und weiterzuführen, das ist bei Sciarrino sehr besonders.

Wenn man sich mit dem Repertoire für Solo-Geige beschäftigt, fällt auf, dass es in der Zeit wischen Paganini und Sciarrino kaum etwas Neues gab, also zwischen 1840 und 1940. Wie erklärst du dir das?

Ja, das ist interessant. Ich denke, in der Romantik war Klavier das zentrale Technik-Instrument und nicht mehr die Geige, darum haben viele Komponisten für Klavier geschrieben. Die meisten Komponisten waren selbst Pianisten. Ich glaube, wenn wir alle großen romantischen Komponisten nehmen, waren unter ihnen keine Geiger. Bis Sibelius. Aber da sind wir dann schon im Expressionismus des 20. Jahrhundert, da haben sich die Dinge schon geändert... Ja, es gibt tatsächlich eine große Lücke nach Paganini was das Sologeigen-Repertoire angeht, etwa 100 Jahre. Diese Lücke ist leider nicht zu füllen, die ist auch in unserem Programm nicht zu füllen.

Ilya Gringolts auf dem Solo-Trip – so haben wir das scherzhaft im Ankündigungstext beschrieben. Wirst du dich alleine fühlen auf der Bühne?

Man stellt sich schon aufeinander ein. Zuerst habe ich versucht, Bezüge zu den Concertio Grossi zu finden. Einige davon kannte ich, andere nicht. Mit denen habe ich mich dann beschäftigt. Es gibt Ähnlichkeiten, sogar wörtliche Zitate, da taucht zum Beispiel in einer Locatelli-Caprice ein sehr ähnliches Thema wie in einem der Concerti. So etwas findet man, wenn man sich damit beschäftigt. Bei Sciarrino sind die Zusammenhänge weniger spürbar, aber da gibt es diesen roten Faden von Paganini zu ihm. Verbindungen gibt es überall, die sind immer direkt. Und dann versuche ich auch, diese Sachen in den Stoff von Corelli einzunähen, also dass es ineinander übergeht. Ob das gelingt, werden wir sehen.

Bestimmt.

Ja, ich hoffe doch sehr, dass die Dramaturgie funktionieren wird. Die ist in diesem Falle schon sehr ungewöhnlich und sensationell, und – das muss man sagen – wirklich ganz im Sinne von Riccardo Minasi und dem Ensemble Resonanz. Da steckt ein gewisses Risiko drin.

Das ist auch ein technisch anspruchsvolles Programm. Ich habe mal gelesen: Wenn man einmal eine gute Technik hat, muss man nicht mehr viel üben. Stimmt das?

Das stimmt einigermaßen. Im Laufe der Jahre ändert sich aber die ganze Körperhaltung, das muss man der Technik anpassen. Aber um überhaupt eine gute Technik zu haben, muss man irgendwann mal sehr intensiv geübt haben. Das habe ich als Kind gemacht. Als ich 15/16 war, habe ich fünf bis sechs Stunden täglich geübt. Das war für mich Alltag. Und wenn die Basis da ist, dann muss man nicht mehr so viel üben. Überhaupt hat man dann nicht mehr so viel Zeit. Aber die Schwierigkeit in diesem Programm besteht vor allem darin, dass man die meiste Zeit zuhört und nicht spielt. Ich werde da also sitzen oder stehen, zuhören und mich dann quasi mit meinen Kommentaren einschalten. Da ist man natürlich in einer ganz anderen Form, als wenn man beispielsweise ununterbrochen einen ganzen Zyklus von Paganini-Capricen spielt. Da spielt man sich ein. Ich bin sehr gespannt!

Der Name Paganini ist eng mit deiner Karriere verknüpft. Mit 16 Jahren hast du den internationalen Wettbewerb Premio Paganini gewonnen – bis heute bist du der jüngste Gewinner. Dann hast du die Paganini-Capricen allesamt eingespielt vor ein paar Jahren. Was fasziniert dich an diesem Komponisten und Geiger?

Paganini hat mich immer begleitet. Als ich mit 16, also quasi noch als Kind, den Paganini-Wettbewerb gewonnen habe, konnte ich noch nicht mal alle Capricen spielen, vielleicht nicht mal die Hälfte. Alle einzuspielen habe ich etwa 15 Jahre später gemacht – das hat lange gedauert und war ein großes Projekt. Ich finde, die Caprici sind eine Ausnahme in Paganinis Werk. Die passen eigentlich viel mehr in die deutsche Romantik – mit dem ganzen Bildhaften und dem Sturm und Drang. Dagegen sind seine Konzerte und Sonaten Belcanto pur, das ist sehr schön, aber man hat nicht diese Tiefe. Das hat mich immer an den Capricen gereizt, an den meisten zumindest: dass sie mich in diese große Welt von Emotionen bringen. Zum Beispiel sind in den ersten zwei Gruppen fast ausschließlich Moll-Tonarten vorhanden, da fühlt man sich fast wie bei Schumanns Fantasiestücken, eine unglaublich farbenreiche Musik. Und dann kommt noch hinzu, dass Werke für ein einzelnes Instrument eigentlich seit Bach nicht mehr so geschrieben wurden. Bis heute gibt es wenig Beispiele für diese Tiefe.

Du beschäftigst dich aber auch viel mit zeitgenössischem Repertoire. Warst du in letzter Zeit beteiligt an Uraufführungen oder findet pandemiebedingt gerade nichts statt?

In den letzten Monaten habe ich zwei Uraufführungen von Bernhard Lang und Beat Furrer gespielt, sehr unterschiedliche Werke. Beide Aufführungen fanden in München statt, Beat Furrer haben wir im Oktober noch vor die Leute gebracht, das andere Konzert fand ohne Publikum statt. Aber beide kann man im Internet nachhören. Das sind zwei fantastische Repertoire-Neulinge, die ganz sicher bleiben werden. Ich bin immer froh, an so einem Verfahren teilzuhaben, also an der Entstehung neuer Werke.

Genießt du es, dann im Austausch zu sein mit lebenden Komponisten?

Oh ja, der Austausch ist wichtig. Das ist ein großer und schöner Teil meiner Arbeit. Die Zusammenarbeit mit Komponisten ist für mich faszinierend: teilzuhaben an dem Prozess des Schaffens, wie sie über ihre Werke sprechen, auch wenn sie nicht sprechen, wie sie das erleben. Das lehrt einen viel. Dieser direkte Kontakt hilft auch dann, wenn man sich wiederum mit alten Werken beschäftigt. Denn im Grunde ist es dasselbe.

Also, du suchst nach übergreifenden Bezügen?

Absolut. Ich versuche, durch die Beschäftigung mit neuen Werken in die Alte Musik zu kommen und zu verstehen, worum es geht und welche Geschichten versteckt sind. Die Aufgabe des Interpreten ist da die gleiche, sie ist aber aufwendiger, wenn es sich um nicht mehr lebende Komponisten handelt. Das macht wahnsinnig viel Spaß. Das sind zwei Prozesse, die einander nähren. Harnoncourt hat gesagt, je älter das Werk, um so weniger handelt es sich um die Noten. Ohne die Kenntnis der entsprechenden Umstände wie Rhetorik oder Konzertpraxis kann man ein Werk nicht verstehen und nicht spielen.

Das heißt, du liest nicht nur Noten?

Glücklicherweise gibt es viele Menschen, die sich mit solchen Zusammenhängen beschäftigen und sich auskennen. Ich lese viele Bücher, das sind nicht nur pure Wissenschaftsarbeiten, sondern auch spannende Lesestoffe. Ein schöner Ton und gute Technik reicht nicht aus – das versuche ich auch, an meine Schüler hier in Zürich zu vermitteln. Wir müssen uns informieren und persönlich versuchen, dem historischen Ideal näher zu kommen.

Welche Rolle spielt Kammermusik für dich?

Kammermusik ist eigentlich alles, was ich mache – außer, wenn ich solo spiele. Also auch wenn ich mit einem Orchester spiele, ich musiziere mit anderen Menschen, das ist Kammermusik für mich. Man möchte ja nicht alleine spielen, das macht keinen Spaß. Meistens zumindest. Ich habe mein eigenes Streichquartett, wir spielen zwar zurzeit aus bekannten Gründen weniger, aber wir haben viele Projekte in Planung. Das Streichquartett ist für mich das schwierigste und zugleich das beste was es in der Kammermusik gibt.

Erinnerst du dich an die erste Begegnung mit dem Ensemble Resonanz?

Das war spannend. Wir haben »Polyptyque« für Violine und zwei Streichorchester von Frank Martin gespielt und »Tabula rasa« von Arvo Pärt mit der Konzertmeisterin Barbara Bultmann. Das war für mich das erste Mal, dieses gewaltige Stück von Pärt zu spielen. Auch Martin spielt man nicht so oft. Also, auch hier wieder ein besonderes Repertoire mit dem Ensemble Resonanz. Ach, das war eine fantastische Stimmung, eine volle Kirche, so viele Leute...

Der Text ist ein Originalbeitrag für das Programmheft der resonanzen drei »concerti & capricen« - die Fragen stellte Ruth Warnke.

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