resonanzen sechs
»when we were trees«

Das Programmheft ist digital! Lest und schaut und hört vor dem Konzert oder danach. Währenddessen lieber den Blick auf die Bühne richten oder im Saal umherschweifen lassen. Und die Ohren öffnen für das, was kommt. Im Anschluss an das Konzert steht Euch wieder alles zur Verfügung.

Inhalt

Konzertprogramm

Vorwort von Marie-Sünje Schade

Einführung: Stille Wälder wurzeln tief

Antonín Dvořák: »Waldesruhe« op. 68/5

Abel Selaocoe: Ka Bohaleng, Qhawe, Kea Morata, Lerato

Kate Moore: »Bay of Bisons«

Giovanni Sollima: »When we were trees«

Abel Selaocoe im Portrait

Besetzung

Konzertprogramm

Antonín Dvorák (1841-1904)
»Waldesruhe« op. 68/5 bearbeitet für 3 Violoncelli und 1 Kontrabass von Edward Laut

Abel Selaocoe (*1992)
Ka Bohaleng
Qhawe
Kea Morata
Lerato

– Pause –

Kate Moore (*1979)
»Bay of Bisons« für Solovioloncello, Stimme und Streichorchester* (Uraufführung am 11.06.25)

Giovanni Sollima (*1962)
»When we were trees« für 2 Violoncelli und Streichorchester

I Resonance Wood
II The Architect
III Leaves Postcards
IV The Dangerous Prevalence of Imagination
V Nyagrodha
VI The Family Tree (Vivaldi)

*Ein Kompositionsauftrag von Ensemble Resonanz, NTR ZaterdagMatinee und Holland Festival, mit Unterstützung der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS.

Abel Selaocoe Violoncello & Gesang
Saerom Park Violoncello
Sidiki Dembélé Perkussion
Thomas Wegner Klangregie
Ensemble Resonanz

»when we were trees«

Out of the box: Virtuose Performance, Improvisation, Gesang und Body Percussion – Abel Selaocoe definiert die Parameter seines Instruments neu und bewegt sich durch Genres und Epochen. Mit Celli und Bass rauschen bei Dvořák die Blätter im Wind; durch die Jahreszeiten führt ein Klangabenteuer mit Giovanni Sollima, mal klassisch, mal folkloristisch, mal perkussiv, mal meditativ. Kate Moore steuert eine Komposition für Cello und Stimme bei. Mit Selaocoes eigenen Werken und Musik, die Grenzen überwindet, kommt das Programm in der Zukunft an.

Liebe Freundinnen und Freunde des Ensemble Resonanz,  

Es gibt Musiker:innen, die sich zwischen den Stühlen bewegen – und solche, die sie einfach beiseite räumen. Abel Selaocoe gehört zweifellos zur zweiten Sorte. Mit seinem Cello, seiner Stimme und seiner Präsenz sprengt er mühelos die Grenzen zwischen Klassik und Improvisation, zwischen europäischer Kunstmusik und südafrikanischer Klangtradition, zwischen Konzertsaal und Ritual. Und vor allem tut er eines: Mitreißen und begeistern!

Dabei geht es ihm immer um Verbindung. »Da, wo ich herkomme, steckt man Musik nicht sofort in Schubladen«, sagt er über seine künstlerische Prägung. Als er in Südafrika zum ersten Mal ein Cello in die Hand bekam, stellte niemand die Frage nach Genre – sondern: Welchen Klang kannst du damit erzeugen? Diese Neugierde prägt bis heute sein musikalisches Wesen: Cello, Stimme, Körper – alles ist eine Klangquelle, alles ist Musik.

Dass er heute auf das Ensemble Resonanz trifft, ist kein Zufall, sondern eine Begegnung mit Ansage: Auch wir suchen bewusst die Spannung zwischen Genres, Traditionen und Ausdrucksformen. Musik ist für uns ein lebendiger Dialog – im Jetzt, im Risiko, in der Reibung.

Dieses Programm bringt alles zusammen: Dvořáks lyrische »Waldesruhe«, Selaocoes eigene, eindringliche und oft tänzerische Kompositionen bis hin zur Uraufführung von Kate Moores »Bay of Bisons«, ein Kompositionsauftrag für Abel Selaocoe und das Ensemble Resonanz. Und schließlich: Giovanni Sollimas titelgebendes Stück – ein Trip durch Klang, Körper und Natur. Wild, poetisch, ungezähmt.

Was eine freudige Bündelung von Vollblutmusiker:innen: Abel Selaocoe und Saerom Park am Solo-Cello, Sidiki Dembélé an der Perkussion und das Ensemble Resonanz – wir freuen uns sehr auf diesen ganz besonderen Resonanzmoment!

Ihre
Marie-Sünje Schade

(Künstlerisches Management & Geschäftsführung)

Stille Wälder wurzeln tief

Jahrhundertelang, wenn nicht gar Jahrtausende, galt der Wald den Deutschen als unheilvoller Ort. Sie raunten von Geistern, die in düsteren Hängen hausten, erzählten von Fabelwesen und Dämonen, die Menschen moorgleich ins Verderben zogen. Doch als die Städte im 19. Jahrhundert größer und dichter wurden, Fabrikqualm die Orte verpestete und die Arbeiter sich beinahe zu Tode schufteten, da erschien der Wald plötzlich als ein wiederentdecktes Paradies.

Hatten nicht schon die alten Germanen Bäume verehrt und sie ihren Göttern gewidmet? In den Edda-Liedern, einer Dichtungssammlung unbekannter Autoren aus dem 13. Jahrhundert, ist beispielsweise der Glaube an die Esche Yggdrasil überliefert, ein Weltenbaum, der Himmel, Erde und Unterwelt verbindet. Bäume galten als heilig, auch in vielen anderen Kulturen.

So stellt sich Joseph von Eichendorff gewissermaßen in mythologische Tradition, wenn er 1810 in seinem Gedicht Abschied nimmt vom »andächtgen Aufenthalt« im »grünen Zelt« und noch einmal die weiten Täler um sein heimatliches Schloss Lubowitz in Schlesien grüßt, bevor er nach Wien in die finstre Stadt aufbricht. Felix Mendelssohn Bartholdy griff den Text 1843 auf und machte ihn zu einem bis heute berühmten deutschen Volkslied. O Täler weit...

Im 21. Jahrhundert stehen wir der romantischen Natursehnsucht in nichts nach. Auch unsere Welt verändert sich rasant, wirkt fremd und fremder, von Maschinen dominiert. Gerade die Menschen aus den Städten pilgern in ihrer freien Zeit massenhaft in die Wälder, wo die beständigen Baumriesen Geborgenheit und Ruhe bieten und frische Luft die Lunge füllt. Fühlen wir uns hier verwurzelt?

Die Musik des heutigen Konzerts lädt uns dazu ein, dem Klang des Holzes nachzuspüren. Es trägt die Stille der böhmischen Wälder zu uns und lässt Stradivari Fichten im »Geigenwald« begutachten. Wir folgen einer niederländisch-australischen Komponistin bis zu ihren keltischen Ahnen. Und lauschen den Erzählungen eines Musikers aus Südafrika, der mit seinen Wurzeln die ganze Welt umarmt.

Bummeln im Grünen

Antonín Dvořák: »Waldesruhe« op. 68/5 bearbeitet für 3 Violoncelli und 1 Kontrabass von Edward Laut

Ende des 19. Jahrhunderts war selbst der hintertupfigste Dörfler vom Naturfieber ergriffen. Clevere Marketingstrategen wussten das zu nutzen – und der Berliner Verleger Fritz Simrock war clever. Nicht nur, dass er Antonín Dvorák zum vierhändigen Klavierzyklus Ze Šumavy (Aus dem Böhmerwalde) animierte, die der Komponist Anfang 1884 lieferte. Klid, dem fünften von sechs Sätzen, der sich aus dem Tschechischen mit Ruhe übersetzen lässt, fügte Simrock noch das Modewörtchen Wald hinzu. Da war sie geboren, die Waldesruhe.

Antonín Dvorák dürfte das kaum gestört haben. Aufgewachsen als Gastwirtsohn in Nehalozeves, einem böhmischen Dorf an der Moldau 30 Kilometer südlich von Prag gelegen, die Abgeschiedenheit der Natur. Im Böhmerwald, einem ausgedehnten Gebirgs- und Waldgebiet, das heute nahtlos in den Bayerischen Wald übergeht, entspannte er gern mit Freunden.

1884, nachdem er das erste Mal in England als Dirigent eigene Werke präsentiert hatte und von der Times am 22. März zum »musical hero of the hour« ausgerufen worden war, belohnte sich Dvorák mit einem Forsthaus als Sommersitz. Zwar nicht im Böhmerwald, aber in der Nähe gelegen, in Vysoká u Příbramě, einem Dorf am Rande des mittelböhmischen Waldgebirges Brdy. Später hat er dort aus einem Schafstall die bis heute stehende Villa Rusalka gebaut. In Vysoká konnte er nicht nur in ungestört komponieren und Zeit im Kreis seiner Familie genießen, er widmete sich auch hingebungsvoll seinen Tauben, dem Obstbau und überhaupt der grünen Umgebung, wie er im Juni 1886 seinem Verleger berichtete:

»Den ganzen Tag verbringe ich meistens in meinem Garten, den ich so schön pflege und liebe wie die göttliche Kunst, und dann bummle ich im Wald.«

Wie ein genüsslicher Bummel im Grünen mutet auch des Komponisten Waldesruhe an. In Des-Dur umgarnt sie das Publikum in synkopisch-lieblicher Melodie, spannt Bögen weit wie Buchenblätterzelte. Zum Mittelteil, der eine Spur bewegter ist – aber wirklich nur un pocchetino più mosso – könnte man im Dreierrhythmus der Triolen einen Wiener Walzer hinlegen. Je nach Interpretation darf das Tänzchen im Schutz der Bäume geradezu leidenschaftliche Ausmaße annehmen, bevor es nach dem Höhepunkt zum ruhigen Anfangsteil zurückkehrt; so sanft, dass die Waldesruhe fast zu einem Nickerchen verlockt. Da werden auch vom 21. Jahrhundert geplättete Hamburger schwach, träumen vom Schlendern entlang waldiger Hügel und Schlummereien auf weichem Moos.

Als Dvorák 1892 kurz vor seiner USA-Überfahrt für eine Abschiedstournee durch Böhmen und Mähren mit dem Geiger Ferdinand Lachner und dem Cellisten Hanus Wihan nach geeigneten Stücken kramte, arrangierte er die »Waldesruhe« kurzerhand für Cello und Klavier. Auf einem Cello ließ sich das An- und Abschwellen der weiten Legato-Melodien noch weit wirkungsvoller ausführen als auf dem Klavier, wo der Ton einmal angeschlagen nur verklingen kann. Nach dem großen Erfolg dieser Fassung bearbeitete er daher auch die Klavierbegleitung für kleines Orchester. Flöten rufen den vertonten Vogelgesang kurz vor dem Mittelteil plastisch ins Ohr. Erkennen Sie das Gezwitscher auch in der Version für drei Celli und ein Kontrabass von Edward Laut, die das Ensemble Resonanz mit Saerom Park präsentiert? Oder das fanfarenartige Hornmotiv, das die Ruhe waldesstimmig beendet?

Bibelbeat und Seelensoul

Abel Selaocoe: Ka Bohaleng, Qhawe, Kea Morata, Lerato

Er spielt Cello, als ob er damit schon im Mutterleib gesessen hätte. Er komponiert Musik, die schimmert wie die Sonne. Und er singt mit unverwechselbarer Stimme: kehlig, schnarrend, butterweich.

»Hae Ke Kae« – »Where is home« heißt das 2022 erschienene Debüt-Album von Abel Selaocoe. Der Titel kommt ohne Fragezeichen aus, was als Hinweis verstanden werden kann, dass der gebürtige Südafrikaner gar nicht groß auf der Suche ist. Er findet Zuflucht in Barockmusik genauso wie in den folkloristischen Klängen seines Herkunftslandes, wandelt fließend zwischen Stilen und Kulturen, Improvisation und Partitur. Das Instrument ist sein Kraftzentrum.

»Wenn ich ein Cello anschaue, sehe ich ein Zuhause. Und ein Zuhause, das ist der Ort, an dem man sich neu erschaffen kann – er gibt dir Kraft, das zu sein, was du sein willst. Es ist ein Ort der Fantasie.«

So sagte es Abel Selaocoe in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. Das Cello erscheine auf den ersten Blick westlich, hat aber in den letzten Jahrhunderten die Welt umrundet. Je nachdem, wo es sich befinde, solle es »die Würze des Ortes« annehmen, findet er.

Abel Selaocoe wurde 1992 in einem Township südlich von Johannesburg geboren. Anfangs übte er auf einem Besenstiel, weil sich die Familie kein Instrument leisten konnte. Aber schon bald begann sein kometenhafter Aufstieg mit dem Cello bis an die musikalische Weltspitze. Heute lebt er in Manchester, wobei er die südafrikanische Heimat immer mit sich trägt, im Herzen und in der Musik.

Nach Hamburg bringt der Cellist vier eigene Titel, drei davon sind auch auf dem Album »Where is Home« erschienen. Mit dem Ensemble Resonanz präsentiert er sie in einer Version für Solocello, Percussion und Streicher.

Ka Bohaleng bricht energetisch los, mit kämpferisch-kehligem Gesang, das volkstümliches Cellozupfen anführt. Es tänzelt, kreiselt. Zwischen Kraft und Sanftmut bewegt sich das Stück, einer der Lieblingssongs von Abel Selaocoe. Es feiert Mütter, eine Quelle der Stärke und des guten Rates, sagt er. Ka Bohaleng bedeutet »auf der scharfen Seite« und spielt auf ein Sprichwort in Sesotho an: »Eine Frau hält das Messer an der scharfen Seite«, mit anderen Worten: an der Klinge. In einer traditionellen südafrikanischen Familie ging der Vater zur Arbeit und die Mutter zog die Kinder auf. »Meinem Bruder und mir wurde von unserer Mutter beigebracht, wie man ein Mann ist«, sagt der Cellist. Er widmet das Stück der mütterlichen Tapferkeit und der Aufopferung auf der ganzen Welt mit flexiblen Rhythmen, motivierenden Trommelschlägen, bestärkendem Backgroundchor.

Auch Kinder können Zuflucht bieten. Durch ihre Verspieltheit, in ihrer Energie. Wenn sie singen, tanzt die Gemeinde in der apostolischen Kirchentradition Südafrikas. Abel Selaocoe rollt einen goldigen Streicherteppich aus, dann bettet er seine Stimme darauf, anbetungsvoll, hymnisch, himmlisch. Er sagt: »Die Natur dieser Postola-Musik ist unglaublich und wunderschön rhythmisch. Oft schlägt eine Frau während eines Liedes eine große Basstrommel auf beiden Seiten und gibt einen Impuls, während die Kinder mitsingen.« Den HeldenQhawe – hat Selaocoe seinem Neffen gewidmet.

Zukunft. Gegenwart. Vergangenheit. Das zweite Album »Hymns of Bantu« ist eine Hommage an die Vorfahren. Spirituell und elliptisch. In Kea Morata (Ich liebe sie so) mahnt Selaocoe »den Menschen ihre Blumen zu geben«, solange sie noch leben. Er gestaltet seine Cellolinie wie eine Rede, die dann auch in Form des oft kehligen, geräuschhaften Gesangs einsetzt, umgeben von kreisenden Streicherlichtern und groovendem Rhythmus. Als der Performer klein war, haben alle um ihn herum gesungen und Geschichten erzählt. Daher fühle sich der Gesang so natürlich an. »Die Stimme ist wie dein Schatten«, sagt Abel Selaocoe. Wo es Licht gibt, folge sie überall.

Abel Selaocoe atmet die südafrikanischen Melodien seiner Vorfahren ein, macht sie sich zu eigen und überliefert sie auf seine Weise weiter. Er möchte sich mit den Musizierenden verbinden, aber auch mit dem Publikum – am liebsten mit der ganzen Menschheit: Sein Song Lerato lässt sich mit »Liebe« übersetzen. Das Stück beginnt mit ruhigem Sologesang, dann stimmt dezent mehr und mehr Begleitung ein, zärtlich, wie eine Umarmung in Tönen. Ein raffiniertes Percussion-Muster zieht sich durch das Stück, ähnlich einer Bassmelodie. In Selaocoes Heimatkirche gibt der Rhythmus den Ton an. Da werden Bibeln schon mal als Trommeln zur Hand genommen. Der ganze Raum schwingt seelenvoll. Abel Selaocoe möchte nicht cool sein, sondern warm. Er sagt: »Wärme ist alles!«

Im Reich der Kelten

Kate Moore: »Bay of Bisons« für Solovioloncello, Stimme und Streichorchester (Uraufführung)

19. Juni 2024, Crosshavenhill Bay, Irland. Eine Frau in Wanderkluft sitzt auf schroffen Klippen und improvisiert auf der Fidel. Der Wind zerzaust ihr braunes Haar, dahinter zieht die Ebbe Wasser aufs offene Meer, schwarzer Fels und grüne Hügel geben dem Auge Halt.

Kate Moore ist auf Wanderschaft, gleichzeitig bei der Arbeit. Für ihr Projekt A Beautiful Path: Plein Air Composing hat sie den Schreibtisch als Kompositionsort verlassen und ihr Atelier nach Draußen verlegt. »Jede einzelne Sekunde hier ist Musik«, sagte sie über den 54-tägigen Trek, der sie von Oss in den Niederlanden über England und Wales bis nach Skellig Michael in Irland führt.

Von Ost nach West folgte sie dem Weg ihrer Vorfahren, zog die eigene »Blutlinie« als wortgetreuen roten Faden über die Landkarte. Mütterlicherseits stammt die Familie aus Holland, Kate Moore wurde in Oxford geboren und die Familie ihres Vaters kam ursprünglich aus Irland.

Moore legte über Monate hinweg lange Strecken zu Fuß zurück und komponierte unterwegs mit Leier, Laute oder Fidel – so stellt sie sich Troubadoure und Dichter der Antike vor. In der Tradition mythologischer Heldenlieder und Sammlungen alter Erzählungen wie Táin, Edda, Mabinogion und Beowulf sowie die Canterbury Tales wollte sie ihren eigenen Geschichtenzyklus schaffen. Sie besuchte keltische Fürstengräber, uralte Steinkreise, verlassene Gräber, überwucherte Burgen. Musizierte im Schatten alter Bäume, sammelte Muscheln, stapfte durch Sand, Stein, Matsch und Gras. Stets begleitet vom Sound der Natur, den sie in Feldaufnahmen dokumentierte. Mit den Umgebungen und Erfahrungen entstand das wegumspannende »Ossenlied« (The Ox Song).

Eine Etappe in 20 Minuten bildet das Werk Bay of Bisons. Kate Moore hat es für Abel Selaocoe und Streichorchester geschrieben. Sie gedenkt darin der Kulturgeschichte ihres Weges, insbesondere der römischen und vorrömischen Vergangenheit. »Bay of Bisons flüstert das Echo der keltischen Vorfahren, als ob der Boden selbst Lieder vergangener Zeiten und verlorener Geschichten singt«, schreibt die Komponistin. Was hat sie dort gehört?

Kate Moore wurde 1979 in England geboren, sie hat in den Niederlanden bei Louis Andriessen studiert, aber aufgewachsen ist sie in Australien. Die dortigen natürlichen Klangwelten haben in ihrer Musik in sirrenden Puls-Mustern und sich verlagernden Klangschichten den stärksten Einfluss hinterlassen.

Doch auch zur keltisch geprägten Vergangenheit auf den grünen Inseln passt ihr Sound formidabel. Im ersten Satz von Bay of Bisons formt das Solo-Cello ein Klagelied, als hätte es der irische Nebel selbst Kate Moore ins Ohr gehaucht. Die tiefen Streicher liefern dazu ätherisch flirrende Atmosphäre, die sich später in den Gezeiten des Tuttis verflüchtigt.

Im zweiten Satz darf der Solo-Cellist als schelmisch verspielter Fiddler auftrumpfen, mit wirbelnden Taktwechseln und schwungvollen Akzenten. Wer nicht vom Tanzrhythmus gepackt wurde, der verfällt spätestens der feierlichen Geisterbeschwörung im dritten Satz. Wie zarter Gesang soll das Solo-Cello klingen, während ein Teil der Bratschen Mandolinenzupfen mimt und sich mit dem übrigen Streichorchester in Triolen und Taktverschiebungen der Schwerkraft zu entziehen scheint.

Moores Kunst der Motivwiederholung, geprägt von winzigen Veränderungen ähnlich der Minimal Music, findet im vierten Satz ihren Höhepunkt – einem temperamentvoll hypnotischen Tanz, der in wellenartiger Akkordbrechung zu transzendentalen Zuständen verführt.

Von Fichten und Feigen

Giovanni Sollima: »When we were trees« für 2 Violoncelli und Streichorchester

Es gibt Bäume, die sind so riesig, dass sie allein Raum für einen ganzen Marktplatz bieten können. Die Banyan-Feige (Ficus benghalensis) ist so ein Baum. Monumental und anrührend. Sie stammt vom indischen Subkontinent und wird dort in Tempeln verehrt. Unter ihrer sattgrünen Baumkrone – der größten der Welt – versammeln sich die Dorfbewohner und genießen die Kühle ihres Schattens, plaudern entlang der weit verzweigten Stammlandschaft, während Kinder Verstecken spielen. Dabei beginnt auch diese Pflanze winzig, als sogenannte Aufsitzerpflanze (Epiphyt) einer anderen Baumart, wo sie als Samen abgelegt wurde, nachdem etwa ein Vogel eine Feigenfrucht verputzte. Der kleine Feigentrieb hängt dünne Wurzeln aus, die ihn schon bald mit Nährstoffen versorgen. Auf Sanskrit heißt die Banyan-Feige Nyagrodha, was »das nach unten Wachsende« bedeutet.

Den Ästen älterer Exemplare entspringen ganze Vorhänge zotteliger Luftwurzeln, die sich bei Bodenkontakt selbst in die Erde graben und zu stammähnlichen Stützwurzeln verdicken. In Kalkutta oder Anantapur gibt es Banyan-Feigen mit Tausenden der grauen Säulen und einem Umfang von mehr als 800 Meter. Der Baum strebt vor allem nach außen und in die Tiefe, weniger gen Himmel. Von der Basis hängt sein Leben ab, damit Saft von unten und Energie von oben ungehindert fließen kann.

Giovanni Sollima hat in seinem Konzert für zwei Celli den fünften Satz, Nyagrodha, nach der Banyan-Feige benannt. Im entspannten Dreierrhythmus tauschen die beiden Solopartien kantabel wehmütige Melodien aus, die von längst vergangenen Zeiten zu erzählen scheinen, während sie die hohen Streicherstimmen zart umwehen.

»Ich wollte mit When we were trees etwas sehr Einfaches komponieren – etwas zwischen Popsong und Alter Musik«, sagt der Komponist. In Hamburg präsentiert Abel Selaocoe das Werk gemeinsam mit Saerom Park, Solocellistin des Ensemble Resonanz.

Der sizilianische Cellist hatte beim Komponieren seines sechssätzigen Werks bestimmte Bäume oder Szenen im Sinn. 2007 beispielsweise, als er das Stück schrieb, pendelte er zwischen Wohnsitzen in Deutschland und Italien. In Berlin züchtete er in seinem Garten kleine Kaktusfeigen (Opuntia ficus-indica), während in Palermo eine jahrhundertalte Großblättrige Feige (Ficus macrophylla) – eine australische Verwandte der Banyan-Feige – mit ihren langen Ästen den Balkon seines Hauses berührte.

Palermo ist für seine riesigen Ficus-Bäume bekannt. Bereits 1840 wurden hier Exemplare eingeführt, die man bis heute in den öffentlichen Gärten der Stadt bewundern kann. Auf einer der Großblättrigen Feigen ist Giovanni Sollima schon als Kind herumgeklettert. Die, wie er findet, »sonderbare Energie« des Baumes hat in seinem Werk Eingang gefunden. Ein bisschen magisch klingt das schon.

Robuster wirkt der zweite Satz The Architect, bei dem Sollima an einen befreundeten afrikanischen Architekten dachte, der Baumhäuser baut. Dessen Tatkraft und Stärke übersetzt der Komponist musikalisch in rockige Rhythmen und tiefe Basslage.

Neben minimalistischen Einflüssen prägen die kulturellen Wurzeln des Mittelmeerraums den Kompositionsstil Sollimas. Er mixt Jazz, Rock, Metal, Klassik, Kirchentonarten und sich wiederholende Strukturen.

Mit einem Hauch Klezmer versieht Sollima den dritten Satz Leaves Postcards. Der Komponist hatte gehört, dass im 19. und 20. Jahrhundert auf Initiative eines Sizilianers Briefe auf heimischen Baumblättern an nach Amerika ausgewanderte Verwandte geschrieben wurden. Mit Briefmarken versehen gingen die Baumblätter als Postkarten um die Welt.

Aber vielleicht ist der Komponist hier der »gefährlichen Prävalenz der Fantasie verfallen«? Von ihr handelt der vierte Satz The Dangerous Prevalence of Imagination. Hier dürfen die beiden Solocellisten in wilden Läufen abdrehen, wenn der Komponist die Bestandteile seines Doppelkonzertes wie wahnsinnig geworden durcheinanderwirft.

Giovanni Sollima zitiert auch Antonio Vivaldi, zum Beispiel im letzten Satz The Family Tree (Vivaldi) aus dessen funkentremolierendem a-Moll-Cellokonzertfinale, RV 419. Der italienische Barockmeister bildet gedanklich den Ausgangspunkt für Sollimas verzweigte Form und schließt die Klammer zum Anfang, womit einem Zeitgenossen Vivaldis gedacht wurde: »Bei der Komposition des Satzes Foresta dei violini dachte ich an Stradivari und daran, wie er durch den Wald von Paneveggio schlendert, um den Bäumen und dem Holz zuzuhören, die den Klängen seiner Instrumente so nahe sind.«

Bis heute wird das Holz der Gewöhnlichen Fichte (Picea abies) des Val di Fiemme im Instrumentenbau hoch geschätzt. Die kegelförmigen Nadelbäume mit ihren langen Zapfen wachsen im östlichen Trentino auf bis zu 2000 Metern Höhe und sollen schon den legendären Geigenbaumeister um 1700 von Cremona hinauf in die Alpen gelockt haben, wo er höchstpersönlich die jahrhundertealten Exemplare begutachten konnte.

»Resonanzfichten« werden die Bäume im Geigenwald genannt. Weil ihr Holz aufgrund des langsamen Wachstums in den strapazierenden Höhen besonders hart, aber auch elastisch ist, den Klang besser überträgt und seine Pflanzensaftgefäße winzigen Orgelpfeifen ähneln, die eine Resonanz bewirken.

Der Resonance Wood (La foresta dei violini) eröffnet Sollimas Doppelkonzert. Denn am Anfang jedes Cellokonzerts stand einst eine Fichte, die Hunderte von Jahren gewachsen ist, in Wintermonaten gefällt, anschließend zersägt, jahrzehntelang getrocknet und schließlich zum Resonanzkörper eines Instruments verarbeitet wurde.

Beim Spielen lebt das uralte Holz wieder auf. Wie die Morgensonne im Gebirgswald durchbrechen filigrane Liegetöne die Stille, Streicher-Glissandi rollen tautropfengleich auf und nieder, winzige Vorhalte rufen wie aufgeweckte Vögel von den Bäumen, bevor eine wehmütige Melodie in langsamen Schwingungen das Holz verlässt und in unseren Körpern resoniert.

Texte von Maria Gnann

Abel Selaocoe im Portrait

Auf seinem Debütalbum präsentiert der Cellist, Sänger und Komponist Abel Selaocoe eigene Kompositionen und Improvisationen, die von seinen vielfältigen musikalischen Einflüssen inspiriert sind.

»›Zuhause‹ kann so vieles bedeuten, jenseits von Architektur oder geografischem Ort: Es kann ein spiritueller Ort sein; es können Menschen sein; es kann Einsamkeit sein; es kann eine Routine sein. Es kann auch etwas sein, das man auf Reisen findet. In all diesen Bedeutungen des Wortes habe ich gelernt, durch das Cello meine verschiedenen Zuhause zu finden.« – Abel Selaocoe

Mehr im Video:

»No one else makes a cello sing like this« (The Times)

Wie Abel Selaocoe musikalische Welten miteinander verwebt, zeigt das folgende Video:

Sein geschickter Umgang mit dem Bogen und sein perkussives Zupfen verleihen dem Cello eine enorme Klangvielfalt – es erklingen Töne wie von Flöten und Trommeln. Sein Gesang, meist in der Sprache Sesotho, umfasst eine Art raues Kehlgesang, bei dem zwei oder mehr Töne gleichzeitig erzeugt werden – zu hören im Eröffnungslied »Ka Bohaleng«, das er Müttern und starken Frauen widmet, die »[das Messer an der scharfen Seite halten]«. In »Les Voix Humaines/Tsohle Tsohle« verbindet er französischen Barock mit südafrikanischen Klängen, wo Selaocoe Musik von Marin Marais mit einfühlsamem Gesang verwebt. Das Konzert endet mit einer Improvisation, die zeigt, wie er musikalische Regeln neu schreibt: Arpeggien wie Wellen auf einem See gehen in gezupfte Saiten mit Metallklammern über, die an Daumenklaviere erinnern.

»...once the performance begins, the music just flows from him without a second’s drop in intensity.« (The Arts Desk)

Besetzung

Abel Selaocoe, Violincello & Gesang

Der südafrikanische Cellist Abel Selaocoe hat sich als eine der führenden Stimmen für die Neuinterpretation klassischer Musik etabliert.

Selaocoe definiert die Parameter des Cellos neu und bewegt sich mühelos zwischen einer Vielzahl von Genres und Stilrichtungen, von Kollaborationen mit Musiker*innen der Welt- und Jazzmusik zu klassischen Cellokonzerten und Solodarbietungen. Er verbindet virtuoses Können mit Improvisation, Gesang und Body Percussion, und hat sich dem Komponieren und Kuratieren von Werken und Programmen verschrieben, die die Gemeinsamkeiten westlicher und nicht-westlicher Musiktraditionen unterstreichen, um den Horizont klassischer Musik zu erweitern und so ein diverseres Publikum zu erreichen. Im Jahr 2023 wurde er mit dem RPS Instrumentalist Award für seine Auftritte und Kollaborationen ausgezeichnet, die »vor Kreativität sprühen und das Publikum begeistert auf den Heimweg entlassen«.

Selaocoe musiziert in einem experimentellen Umfeld, entwickelt neue Projekte mit Zeitgenoss*innen und arbeitet eng mit Musiker*innen aus verschiedenen Genres zusammen, darunter Bernhard Schimpelsberger, Seckou Keita, Manchester Collective, Giovanni Sollima, Dudù Kouaté und Nduduzo Makhathini. 2016 gründete Selaocoe Chesaba – ein Trio, das sich auf Musik vom afrikanischen Kontinent spezialisiert hat, darunter viele seiner eigenen Kompositionen – und 2022 das Quartett Bantu Ensemble, mit dem er seine Musik weltweit präsentiert.

Biografie weiterlesen

Saerom Park, Violoncello

Saerom Park wurde in Südkorea als Tochter einer Künstlerin und eines Schriftstellers geboren. Früh begann sie mit dem Klavierspiel; mit zwölf entdeckte sie das Cello. Nach mehreren Auszeichnungen bei nationalen Wettbewerben debütierte sie mit fünfzehn Jahren als Solistin mit dem Moskauer Kammerorchester.

Zwei Jahre später zog sie nach Deutschland, um an der Folkwang Universität der Künste in Essen Cello bei Young-Chang Cho und Kammermusik bei Andreas Reiner zu studieren. In dieser Zeit gründete sie das Klaviertrio Trio Image, dem sie fast ein Jahrzehnt lang angehörte. Beim Wettbewerb Franz Schubert und die Musik der Moderne in Graz wurde dem Ensemble der dritte Preis sowie der Publikumspreis verliehen. Während dieser Jahre erhielt sie darüber hinaus entscheidende Impulse durch Begegnungen mit Mentoren wie Boris Pergamenschikow, Bernhard Greenhouse, Hatto Beyerle und Vladimir Mendelssohn – Musiker, die ihr nicht nur musikalisches Handwerk vermittelten, sondern ein offenes, forschendes Denken über Klang, Struktur und Form. Sie inspirierten ein Verständnis von Musik, das tief mit Leben und Menschsein verbunden ist.

Aus dieser Offenheit heraus entwickelte sich ein künstlerischer Weg, getragen von Neugier, stilistischer Beweglichkeit und einem feinen Gespür für musikalische Sprache. Als Solistin und Kammermusikerin ist Saerom Park regelmäßig bei internationalen Festivals zu erleben, darunter das Musikfest Berlin, die Schubertiade, Wien Modern, das Pablo Casals Festival in Prades, die Biennale di Venezia und das Kronberg Festival. Ihre Einspielungen erschienen bei renommierten Labels wie Harmonia Mundi, WERGO, Kairos und Pentatone.

Biografie weiterlesen

Sidiki Dembélé, Perkussion

Sidiki stammt aus einer traditionsreichen Familie malischer Griots – Musiker:innen, Diplomat:innen und mündliche Historiker:innen – und wuchs mit dem kulturellen Erbe seiner Vorfahr:innen auf. Er ist ein versierter Multi-Instrumentalist und begann seine professionelle Karriere bereits im Alter von vierzehn Jahren. Heute unterrichtet er weltweit auf Masterclass-Niveau.

Seit seiner Arbeit als Interpret und Komponist für Mugabeland! (2012, Lowry Theatre) von Justin Macgregor sowie als musikalischer Leiter von Ballet Nimba (2010–2015) ist Sidiki Teil des Ensembles der Royal Shakespeare Company (RSC). Dort wirkte er unter anderem in Hamlet (2016 und 2018) als Musiker mit. Im Jahr 2020 wurde er zum Botschafter für Schlagzeuger:innen des 21. Jahrhunderts ernannt.

Zu seinen weiteren Engagements zählen zahlreiche Auftritte mit dem BBC Concert Orchestra, dem Welsh National Orchestra und dem Ulster National Orchestra. Eine internationale Tournee mit dem Manchester Collective gipfelte 2021 in einem Auftritt bei den BBC Proms, bei dem Musik und Traditionen zweier Welten und Zeiten miteinander verbunden wurden.

Biografie weiterlesen

Ensemble Resonanz

Violine
Bogdan Božović**, Barbara Bultmann**, Gregor Dierck*, Swantje Tessmann*, Skaistė Dikšaitytė, Tom Glöckner, David-Maria Gramse, Corinna Guthmann, Juditha Haeberlin, Christine Krapp, Benjamin Spillner

Viola
Tim-Erik Winzer*, Marc Kopitzki*, David Schlage, Christian Marshall

Violoncello
Saskia Ogilvie*, Saerom Park*, Jörn Kellermann

Kontrabass
Anne Hofmann*, Sophie Lücke*

** Konzertmeister
* Stimmführer:in

In Residence in der Elbphilharmonie
Zuhause auf St. Pauli

Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. Die Programmideen der Musiker:innen setzen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Werken, dem Publikum und Geschichten, die rund um die Programme entstehen. 

Das 21-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner:innen an Bord. Der Geiger und Dirigent Riccardo Minasi ist »Principal Guest Conductor & Partner in Crime« des Ensemble Resonanz. Enge künstlerische Verbindungen ging das Ensemble mit der Bratschistin Tabea Zimmermann, der Geigerin Isabelle Faust, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras oder dem Dirigenten Emilio Pomàrico ein. Mit der Szenografin Annette Kurz begleitet seit der Saison 22/23 erstmals eine visuelle Künstlerin das Ensemble als Artist in Residence. Auch die Zusammenarbeit mit Komponist:innen und die Entwicklung eines neuen Repertoires sind ein treibender Motor der künstlerischen Arbeit. 

Biografie weiterlesen