Riccardo Minasi über Mozart und das Ensemble

Im Gespräch mit Tobias Rempe

T          Riccardo, Du hast Deinen musikalischen Weg als Geiger in der Alten Musik begonnen, warst ein erfolgreicher Solist und langjähriger Konzertmeister von Jordi Savall und bei Il Giardino Armonico. Heute bist Du hauptsächlich Dirigent, bist Generalmusikdirektor in Genua, und in dieser Saison steht Dein Debut bei den Berliner Philharmonikern an. Wie kam es, dass Du die Geige mehr und mehr für das Dirigieren eingetauscht hast? Ich habe gehört, dass auch Kent Nagano dabei eine Rolle gespielt hat?

 

R          Es waren mehrere Einflüsse und Begegnungen, aber tatsächlich: Der erste Impuls kam durch die Einladung, im Rahmen seines damaligen Festivals in Montréal für Kent Nagano das Orchester einzustudieren. Es ging um Eugen Onegin von Tschaikowski – unmöglich, das von der Geige aus zu leiten. Also legte ich die Geige nieder und begann, meine Hände zu bewegen. So ging es los. Auch Eure erste Einladung hat eine Rolle gespielt. Wir haben ja damals unter anderem eine Kammerfassung von Prélude à l’Après-Midi d’un Faune von Debussy gemacht. Eine wichtige Erfahrung für mich. Kurz darauf gründete ich als Künstlerischer Leiter das Orchester Il Pomo d’Oro und fast gleichzeitig kamen die ersten Einladungen für Operndirigate am Opernhaus Zürich. Ein großes Lernen und eine verrückte Zeit. Ich bin kein klassisch ausgebildeter Dirigent und ich lerne immer noch – in jeder Zusammenarbeit.

 

T          Welchen Einfluss haben dabei Deine Erfahrungen als Geiger auf Dich als Dirigenten?

 

R          Einen großen. Ich habe damals zwar auch Unterricht im Orchesterdirigieren genommen, aber am Meisten über das Dirigieren habe ich aber bestimmt in meiner Tätigkeit als Geiger gelernt. Von den guten Dirigent:innen natürlich – aber ebenso viel vermutlich auch in Zusammenarbeiten, in denen Wünsche offen blieben… 

 

T          Ich bin immer sehr fasziniert von Deinem Timing, wann Du beim Dirigieren Impulse setzt und Kontrolle übernimmst und wann Du die Musiker:innen im Flow lässt – wie hast Du das entwickelt?

 

R          Mit Euch ist es schon etwas spezielles, weil ich den Musiker:innen so sehr vertraue. Ich weiß, dass das Ensemble auch ohne mich jederzeit etwas Besonderes abliefern kann. Wenn wir aber zusammen sind, proben wir auf eine so außergewöhnliche Weise, dass ich im Konzert dann meist nur noch innerhalb einer gemeinsam verstandenen Vision navigieren muss – und davon ausgehend auch spontan neue Ideen einbringen kann.

 

T          Wie erinnerst Du deine erste Begegnung mit dem Ensemble?

 

R          Ich erinnere mich gut, Ihr wart noch in diesem bohemian place über einer Bar in der Schanze. Als ich das erste Mal an dieser Adresse ankam, dachte ich, das kann nicht stimmen – bis jemand mit einem Geigenkasten mich mit nach oben nahm. Musikalisch war es ein Schock. Ich traf eine Gruppe Menschen, die völlig offen waren, auch für auch die ungewöhnlichsten Vorschläge, die ich machen konnte. Du hast einmal gesagt, das Ensemble habe den Anspruch, sich in allen Repertoirebereichen mit einer eigenen Vorstellung zu beweisen. Ich glaube, Ihr wollt es vor allem Euch selbst beweisen, dass Ihr Dinge auf Eure eigene Art tun könnt. Das empfinde ich immer noch jedes Mal, wenn ich mit den Musiker:innen des Ensemble zu tun habe. 

 

T          Die Entwicklung eines eigenen Zugangs, eines persönlichen Klangs im Repertoire des 18. Jahrhundert war dann ein Schwerpunkt Deiner Zusammenarbeit mit dem Ensemble. Historisch begründet aber zeitgenössisch – auch weil das Ensemble hauptsächlich auf modernen Instrumenten spielt. Was ist daran neu?

 

R          Grundsätzlich ist noch nichts Neues in der Verbindung von historischer Reflektion und modernen Instrumenten – Sir Roger Norrington oder Nikolaus Harnoncourt haben das Jahrzehnte vor uns bereits getan. Aber die Frage des Instrumentariums als solches ist für mich auch gar nicht entscheidend. Es geht ja nicht um ein Reenactement. Es scheint mir utopisch, reproduzieren zu wollen, wie eine bestimmte Musik vor über 200 Jahren geklungen oder gewirkt hat. Wir könnten, denke ich, nicht einmal ein Konzert von vor 50 Jahren authentisch darstellen, wo wir sogar Tonaufnahmen haben. Aber wir können auf den Erfahrungen der genannten Pioniere aufbauen, und wir haben unglaublich viel Zugang zu historischen Informationen, die uns in unserer heutigen Sicht auf die Werke leiten können. Es geht um Forschung! Darum, die Herkunft und Entwicklung der Werke so gut wie möglich zu verstehen. Ich bin überzeugt, je mehr wir dieses Wissen in unsere Herangehensweisen einarbeiten, desto unmittelbarer wirkt die Musik. Speziell, spezifisch, vielleicht auch schockierend und gleichzeitig idiomatisch und natürlich. Und am Ende haben wir vielleicht wirklich etwas Neues im Panorama der Interpretationen dieser Musik. 

 

T          In die Erforschung der Herkunft und Entwicklung der Werke beziehst Du auch Quellen ein, die nicht mehr aus der Entstehungszeit stammen, sondern eigentlich schon zur Aufführungsgeschichte zählen. So sind die Aufnahmen von Richard Strauss als Dirigent der letzten drei Mozart-Sinfonien eine wichtige Inspiration für Dich gewesen, als wir die Arbeit daran begonnen haben. 

 

R          Als ich diese Sinfonien mit Richard Strauss das erste Mal gehört habe, traute ich meinen Ohren nicht. Ich konnte seine Verwurzelung und Verantwortlichkeit gegenüber einer bestimmten Tradition, die sich auf Bach, Haydn, Mozart etc. bezieht, deutlich spüren. Es war alles zu hören, worüber wir immer schon viel lesen konnten: Über Flexibilität im Tempo, Rubato, Portamentos, Bogenstriche, the rule of the downbow, die Dehnung bestimmter Noten, Legaturas, Bindungen, Phrasierung und vieles mehr. Es ist alles da, aber dennoch ist die Aufnahme auf eine bestimmte Weise sehr weit weg von unseren jetzigen Hörgewohnheiten. Es klingt völlig anders! Unsere erste logische Reaktion heute wäre vermutlich: Das ist falsch, der Klang, die Tempi sind falsch. Aber: Es ist nicht falsch. Es ist nur so, dass Stil und ästhetische Auffassungen sich permanent verändern. Und wir haben die Tendenz, dabei die Erfahrungen der Vergangenheit auszuschließen.

 

T          Jetzt kommt mit der Linzer und der Prager bald wieder eine Einspielung mit Mozart-Sinfonien heraus. Schon im ersten Gespräch mit harmonia mundi hattest Du damals seine Sinfonien ins Gespräch gebracht. Du hast eine besondere Beziehung zu Mozart?

 

R          Dieser Mann hat mir einige der freudvollsten und wahrhaftigsten Momente in meinem Leben beschert. Er spricht zu mir, wenn ich seine Musik lese.

 

T          Dabei geht es aber offenbar nicht nur um heitere Themen, wenn man Deine Interpretationen seiner Musik zu Grunde legt.

 

R          Mozart als ausschließlich freundlicher, überbordender, beschwingter Mensch und Komponist – ich glaube wirklich, das ist ein Missverständnis. Meiner Meinung nach gibt es kaum eine dunklere Musik als etwa seine g-Moll Sinfonie. Das Stück macht mich fertig. Es ist ein furchterregendes, diabolisches, brutales Werk! Eines der ernsthaftesten und tiefst empfundenen des 18. Jahrhunderts. Gleichzeitig gibt es vielleicht kaum ein freudvolleres Finale als das der Linzer Sinfonie. Er schafft das auf so verblüffende Weise, fügt am Ende immer 2 Takte zusätzlich zum Pattern hinzu und erzeugt so einen unglaublichen Sog. Eine tatsächlich simple Technik, angewendet in so genialer Weise. Man sieht diese Techniken durchaus auch bei seinen Zeitgenossen – etwa bei den böhmischen Komponisten der Zeit, Vanhal, Vranitzky, Mysliveček, Ebler. Mozart aber bringt das in einer Weise auf den Punkt – organisiert und trocken könnte man sagen – das ist vielleicht das Einzigartige.

 

T          Und die Prager?

 

R          Ich erinnere mich an diese Rezension, die unsere letzten Mozart-CD zum besten Beitrag zum Beethoven-Jahr erklärte. Die Prager Sinfonie ist für mich eine der beethovianischten Sinfonien von Mozart – wenn nicht die beethovianischte. Ganz ehrlich, ich glaube, die tatsächliche Revolution startete in Salzburg. Oder irgendwo zwischen Salzburg und Wien. 

 

T          Später in unserer Saison steht dann noch ein Erstes Mal an – die vierte Sinfonie von Johannes Brahms. 

 

R          Ich freue mich sehr darauf! Es gibt einfach so viele Verbindungen zu dem, was wir schon gemacht haben. Es korrespondiert mit den Sieben letzten Worten von Haydn, natürlich mit den Mozart – Sinfonien oder Beethoven. Da ist eine Botschaft, eine Bedeutung, die von Generation zu Generation weitergereicht wurde, etwas Schönes und Bedeutsames, das immer wieder am Leben gehalten wurde. Um etwas auszusagen, darüber, was wir sind oder wer wir sind. Manche bezeichnen Brahms ja als einen ‚konservativen Revolutionär‘. Ich glaube, das war er nicht. ‚Der Fortschrittliche‘ trifft es besser, wie Schönberg es formuliert hat. Unglaublich, was er weitergeführt hat! Aber Brahms hat nicht geschockt, seine Musik strahlt weniger eine revolutionäre Geste aus, nicht wie bei CPE Bach – oder eben auch Mozart.

 

T          Dieses Werk mit dem Ensemble Resonanz zu machen war Dir ein Anliegen – hast Du eine besondere Verbindung? 

 

R          Ich habe als Grundschüler für die Ferien ein Magazin bekommen, dem lag eine Kassette bei. Eine Aufnahme der vierten Brahms mit James Levine. Wir waren in Kalabrien, den ganzen Sommer. Ich habe die Kassette auf meinem Walkman in Endlos-Schleife gehört und war völlig verkauft. Das ist dann mal eine ganz persönliche historische Quelle, zu der ich mit dieser Musik immer zurückkehre – die kalabrische Sonne (lacht).