Flirt mit dem Banalen

Helmut Lachenmann: Marche fatale, Fassung für Kammerorchester

Die Begegnung mit den Varianti markierte einen Wendepunkt in der Biographie des jungen, schwäbischen Pfarrerssohns – siebtes von acht Kindern – Helmut Lachenmann. Nachdem er Nono seine Abschrift der Varianti übersandte, lud Nono ihn ein, nach Venedig zu kommen, um bei ihm zu studieren. Im Restaurant Altanella auf der Giudecca zeugen bis heute Fotografien hinter der Theke von dieser so prägenden, wie herausfordernden Zeit. Mit seinem Namen verbindet sich der Begriff der »musique concrète instrumentale«, einer Musik, welche die Energien, die zu ihrer Hervorbringung vonnöten sind erfahrbar werden lässt. Musik, die knarzt und knurrt, faucht und schmaucht. Lachenmanns ganzes Schaffen kann man als den Versuch begreifen, das Hören zu schärfen, die Antennen stets neu auszurichten und dabei Herz und Hirn, Intellekt und Gefühl auch stets in eine neue Balance zu bringen. Lange Jahre gebrandmarkt mit dem Stichwort »negativer Komponist«, oder auch: »Komponist der Verweigerung« hat sich doch inzwischen herumgesprochen, was Helmut Lachenmann eigentlich ist: ein Schönheitssucher! Denn, so lautet der Sinnzusammenhang korrekt: »Schönheit ist Verweigerung von Gewohnheit!« Lachenmann ist heute selbst zu einer Ikone der Musikwelt geworden, dem in den Sozialen Medien in der »Helmut Hard Core Total Devotion Group« gehuldigt wird und dessen Konterfei sich auf T-Shirts gedruckt findet im Stile des Guerillaführers Che Guevara. Beim Schreiben stelle ich mir vor, wie Helmut den Begriff »Ikone« spitzzüngig zerpflücken würde und als irrwitzig in Bezug auf seine Person ablehnen würde, und das zurecht. Denn jeder Versuch, ein Bild von Helmut Lachenmann zu fixieren, muss scheitern, solange er lebt und nicht nur die Welt, die Gesellschaft, in der er lebt, sondern insbesondere sich selbst und sein Schaffen kritisch hinterfragt. Was man hingegen mit Gewissheit sagen kann, dass ihn mit dem Ensemble Resonanz seit vielen Jahren eine künstlerische Freundschaft verbindet, die nun auch in einer Erstaufführung einer Ensemblefassung mit chorischen Streichern seiner Marche fatale zum Ausdruck kommt. Komponieren bedeutet, so Lachenmann, stets »ein Instrument bauen«. Jahrzehntelang hielt er sich an diese Maxime – bis er auch diese über Bord warf. Die Marche Fatale schrieb Lachenmann zunächst für Klavier und instrumentierte sie anschließend – »zum ersten Mal in meinem Leben«. Uraufgeführt in der Staatsoper Stuttgart anlässlich des 425-jährigen Jubiläums des Orchesters hat das Werk die Kenner seiner Musik mindestens so sehr vor den Kopf gestoßen wie sie den unbedarften Konzerthörer verblüfft. So klingt also die Musik eines berühmten Revolutionärs? In seinem oben zitierten Rückblick auf die serielle Musik umriss Helmut Lachenmann die Problematik des »Komponierens heute: wie befreie ich die kompositionstechnischen Mittel von Ihren in der Gesellschaft etablierten Fehlinterpretationen so, daß Ich in die Lage komme, mich als schöpferischer Künstler zu dieser Gesellschaft frei und kritisch zu verhalten? […] Für diese Gesellschaft oder gegen sie komponieren ist für diese dasselbe und birgt die Gefahr, womöglich gerade dann, wenn man diese Gesellschaft ganz empfindlich treffen will, sich von ihr heimtückisch umarmen zu lassen.« Mag sein, dass also Helmut Lachenmanns Flirt mit dem Banalen, seine hingebungsvolle Inszenierung von lächerlicher Heiterkeit nur ein weiterer – vergeblicher! –Versuch ist, solcher Umarmung zu entgehen. »Kunst ist nun mal kein Lutschbonbon vor dem Schlafengehen.«

Patrick Hahn
aus: Programmheft zu resonanzen »mit tusch«