Ein echter Blizzard der künstlerischen Einbildungskraft

Adams / Vivaldi

»Ein Verständnis des Neuen durch die Reflexion des Alten.« Nicht mehr und nicht weniger wollten sie erzeugen, vertrauten die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Resonanz dem Programmheft an, das am 5. Februar 2001 im Rolf Liebermann Studio des NDR auslag. Es gab Die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi, verschränkt dargeboten mit Shaker Loops von John Adams. Ein »Signature-Programm« des damals knapp sechs Jahre alten Ensembles, in dem sich vieles von dem zeigte, was die Arbeit bis heute auszeichnet: Neugier, Experimentierfreude, Lust an der Neubetrachtung von Bekanntem, spielerischer Umgang mit Tradition und eine Einladung an seine Gäste, sich überraschen zu lassen. Die Zutaten zu dieser die üblichen Genregrenzen »shakenden« Kreation trennt von ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem kulturellen Kontext so ziemlich alles. Auf der einen Seite ein Werk des amerikanischen Minimalismus, entstanden 1978 unter der Sonne Kaliforniens. Auf der anderen Seite vier Violinkonzerte, Inkunabeln des venezianischen Barock aus dem Jahr 1725. Die Shaker, auf die sich John Adams im Titel bezieht, sind eine christliche Freikirche. Ihren – gelegentlich auch derogativ verwendeten – Namen bezieht sie von einem «Schütteltanz«, den die Gemeindemitglieder bei ihren Zusammenkünften pflegen und der die Ausführenden bis zur spirituellen Ekstase führt. Ekstatisch fallen auch die meisten Hörerfahrungen mit den Shaker Loops von John Adams aus. Es ist ein Schlüsselstück für das Schaffen des berühmten Komponisten: Noch suchend nach dem eigenen Weg, fand er in den Tonbandstücken von Steve Reich (It’s gonna Rain!) und ihrer Operationsweise mit Loops – also in sich kreisenden, wiederholten Bandschleifen – Inspiration für einen eigenen Umgang mit harmonischen und melodischen Zellen. In vier Sätzen durchmisst Adams ein ungeheures Spektrum körperlicher wie emotionaler Erfahrungen. Vom leichten Zittern und Zucken bis zu heftigen Konvulsionen und Schüben, vom Flirren und Flimmern bis zum Gleißen und Glimmen, vom Gleiten und Stöhnen bis zum Schweben und Wähnen. Adams spielt jedoch auch mit dem Sinn des Begriffs: »to shake« meint in der Streichersprache entweder ein Tremolo mit dem Bogen oder einen Triller.

Diese unterschiedlichen Spiel- und Artikulationsweisen bilden auch den Link zu den Vier Jahreszeiten. Auch Vivaldi nutzt das gesamte Ausdrucksspektrum der Streichinstrumente, um seinen Cimento dell’armonia e dell’inventione zu inszenieren. Dieser Untertitel verweist auf das künstlerische Programm des Komponisten. Der Begriff armonia meint hier so viel wie das handwerkliche Können, das Beherrschen der Kompositionstechniken. Inventione beschreibt im Gegenzug dazu die freie, künstlerische Erfindungsgabe, die sich zum Zweck der emotionalen Glaubwürdigkeit auch über die Konventionen der armonia hinwegsetzen darf. Diese beiden Pole lässt Vivaldi in einen Wettstreit, einen sogenannten cimento, eintreten. Die Faszination, die bis heute von diesen vier Violinkonzerten ausgeht, ist nicht zuletzt auf ihren plastischen Darstellungscharakter zurückzuführen: Es ist Programmmusik, die mit eingängigen, musikalischen Bildern unmittelbar zu ihren Hörern spricht. Dem barocken Kunstideal des »imitar la natura« folgend, der Nachahmung der Natur, war das Jahreszeitenmotiv in der bildenden Kunst der Vivaldi-Zeit präsent. Musikalisch ist er jedoch ohne direkten Vorläufer. Seinen vier Jahreszeitenkonzerten fügte Vivaldi vier erläuternde Sonette bei, die durch einzelne, direkt in die Notenzeilen eingefügte Erklärungen bereichert werden. Im Winter, der im Rahmen dieses Konzertprogramms erklingt, lässt Vivaldi eisige Winde durch den Streicherapparat wehen, lässt die Saiten frostig klirren und die Bögen mit den Zähnen klappern. Versteht man das Neue tatsächlich besser, wenn man es so verbunden mit Vivaldi hört? Gewiss, man findet leichter hinein, wenn man nicht weiß, wo das Alte endet und das Neue beginnt, wenn für kurze Momente ein Schwebezustand zwischen den Zeiten und den Epochen entsteht. Mindestens so aufregend ist jedoch die Erkenntnis in Hinblick auf das Alte durch die Reflexion im Neuen: Wie kühn und modern dieses »Wagnis« von Harmonie und Erfindung von Vivaldi doch war, wie viel mehr als eine fröhlich wirbelnde Schneekugel aus dem Touristenshop. Ein echter Blizzard der künstlerischen Einbildungskraft.

Patrick Hahn
aus: Programmheft zu resonanzen »mit tusch«

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