resonanzen eins
»dusk & dawn«

Das Programmheft ist digital! Lest und schaut und hört vor dem Konzert oder danach. Währenddessen lieber den Blick auf die Bühne richten oder im Saal umherschweifen lassen. Und die Ohren öffnen für das, was kommt. Im Anschluss an das Konzert steht Euch wieder alles zur Verfügung.

Inhalt

Konzertprogramm

Vorwort von Marie-Sünje Schade

Zum Programm

George Enescu: Oktett C-Dur op. 7

Lili Boulanger: »D'un soir triste«

Béla Bartók: Divertimento für Streichorchester

Vorschau: Enescu und Britten

Besetzung

Konzertprogramm

George Enescu (1881-1955)
Oktett C-Dur op. 7 (Fassung für Streichorchester)
I. Très modéré –
II. Très fougeux – Moins vite – 1er Mouvement
III. Lentement – Plus vite – 1er Mouvement
IV. Mouvement de Valse bien rythmée

– Pause –

Lili Boulanger (1893-1918)
»D'un soir triste« bearbeitet für Viola Solo und Streichorchester von Johannes Schöllhorn* (Uraufführung)

Béla Bartók (1881-1945)
Divertimento für Streichorchester
I. Allegro non troppo
II. Molto adagio
III. Allegro assai


*Der Kompositionsauftrag an Johannes Schöllhorn wird umgesetzt mit der Unterstützung der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS.

Tabea Zimmermann Viola & Leitung
Ensemble Resonanz

»dusk & dawn«

George Enescu stürzt voran ins neue Jahrhundert, drängend, überbordend und voller Energie. Lili Boulangers »D’un soir triste« zieht vorbei wie ein Schatten, ein Schimmern, ein Atemzug, der vergeht. Bartóks Divertimento taumelt, trotzt, dreht sich im Zwielicht und tanzt am Abgrund der nahenden Katastrophe. Eine Welt von gestern steht an der Schwelle, das Morgen wankt – zwischen Zeiten, Zuständen, Möglichkeiten.

Liebe Freundinnen und Freunde des Ensemble Resonanz,  

wir beginnen die Saison mit: »dusk & dawn«. Die Dämmerung am Abend und am Morgen, das Glimmern des Dazwischen – ein Spannungsfeld, das wir als Ensemble Resonanz immer wieder gerne suchen: Auf der einen Seite das Gefühl von Aufbruch, Rausch und Euphorie – und am anderen Ende die aufkommende Ahnung von Dämmerung, Schatten und einem Hauch von Vergänglichkeit. Unser Blick richtet sich auf diese Bruchstelle, auf die Gleichzeitigkeit. Denn genau hierin liegt ja das Lebendige, Interessante und vielleicht auch zutiefst Menschliche.

Im Urlaub begegnete mir ein Wort von Benedict Wells, das ich nicht mehr vergessen konnte. Wie eine Vorahnung schien es mich auf unser Saisoneröffnungsprogramm hinzuweisen: Euphancholie. Der Geschmack von süß-sauer in einem Bissen und die Idee, dass der Weg nach vorne auch immer mit einem kurzen wehmütigen Blick nach hinten einhergeht. Beide Welten sind da, im gleichen Moment.

Auch die Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist von dieser Spannung des Übergangs geprägt. Drei Komponist:innen in Europa fangen diese Schwelle ein: George Enescu stürzt mit jugendlicher Energie in ein neues Jahrhundert, sein Oktett sprüht vor Lebenslust und trägt gleichzeitig eine tiefe, fast wehmütige Melancholie in sich. Béla Bartóks Divertimento wagt einen Tanz am Rand des Abgrunds – scheinbar leicht, doch jeder Ton trägt bereits die dunklen Vorzeichen einer Welt im Umbruch, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Lili Boulangers letzter »Abend« liegt dazwischen wie ein hauchzarter Atemzug, eine flüchtige Schönheit zwischen Leben und Tod, zwischen Vertrautem und Verstummen.

Und danach? Dann feiern wir – vielleicht genau das, was Benedict Wells »Euphancholie« nennt: den Rausch der Musik und die Ahnung, dass er vergänglich ist. Freude im Wissen um ihre Endlichkeit. Mit Tabea Zimmermann, mit Ihnen, mit dieser Musik. Das Streichoktett haben wir mit ihr auf CD bei Harmonia Mundi eingefangen – »Enescu to go.« Offiziell erst im November im Handel, heute Abend aber schon exklusiv zu haben, gern auch mit der Handschrift von Tabea Zimmermann.

Bleiben Sie. Trinken Sie mit uns ein Gläschen – wir laden Sie ein. Lassen Sie die Musik nachklingen. Wir nennen es »dusk & drinks«.

Ihre
Marie-Sünje Schade

(Künstlerisches Management & Geschäftsführung)

Zum Programm

Wie sieht’s denn eigentlich mit Ihrer Erwartungshaltung aus? Was versprechen Sie sich von diesem Programmheft? Und von diesem Konzertabend, der gleichzeitig Auftakt der neuen Resonanzen-Saison ist? Es gibt da doch sicherlich gewisse Erwartungen Ihrerseits: Zerstreuung, Horizonterweiterung, Impulse oder einfach ein paar schöne Momente, die Sie durch die nächsten Tage bringen?

Dabei ist vermutlich ausschlaggebend, welcher Erwartungs-Typ Sie sind. Betreiben Sie gutes, nachhaltiges Erwartungsmanagement oder sind Sie schnell enttäuscht, wenn etwas anders verläuft als Sie es erhofft hatten? Wie gehen Sie generell mit den Erwartungen an sich selbst um? Verspüren Sie Druck in dieser Hinsicht? Brauchen Sie diesen Druck vielleicht auch, um das Beste aus sich herauszuholen?

Die drei Komponist*innen, deren Werke das Ensemble Resonanz an diesem Auftaktabend der Resonanzen-Reihe spielt, sind auf verschiedene Weise vom inneren und äußeren Erwartungsdruck betroffen. Und sie gehen unterschiedlich damit um. Der 19-jährige Enescu möchte seine beste Komposition an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts schreiben. All in. Lili Boulanger dagegen sieht sich gezwungen, die hohen Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu enttäuschen. Ihr Körper streikt und sie stirbt, bevor sie ihre musikalische Sprache, ihr Werk eigentlich erst entwickeln kann. Wiped out. Béla Bartók muss die Erwartungen eines Mäzens erfüllen und fühlt sich dabei merkwürdig fehl am Platz. Er ist professionell genug und an einem Punkt in seiner Karriere, an dem es ihm trotzdem nicht schwerfällt, eine unbequeme Erwartungshaltung zu erfüllen. Trade-off.

Dazu sind es nicht nur die eigenen Entitäten, die hier eine Rolle spielen; auch alles drum herum ist geprägt und geformt durch Druck und Erwartung, ein Ziehen und Zerren zwischen Macht-Positionen und Visionen, zwischen sich überschlagenden Entwicklungen und versteinertem Verharren.

Unsere Welt heute hat noch mal spürbar an Fahrt aufgenommen, Orientierung erfordert deutlich mehr Energie und Einsatz. Davon können Sie sicherlich auch ein Liedchen singen. Daher eine kurze Einordnung: Dieses Programmheft vermittelt Ihnen hoffentlich ein paar Einblicke und Zusammenhänge, erhebt aber auf keinen Fall Anspruch auf absolute Vollständigkeit. Die Musiker*innen auf der Bühne geben ihr Bestes, sie haben hohe Erwartungen an sich selbst und können sie in den meisten Fällen auch locker erfüllen. Die Musik ist absolut. Sie entzieht sich und ist gleichzeitig dazu bereit, sich Ihren Erwartungen zu stellen. Nur zu.

George Enescu: Oktett C-Dur op. 7

»All in«

»Es graust mich vor allem, was stagniert. Für mich ist Musik kein Zustand, sondern eher Aktion.« Nachdem George Enescu 1895 nach Paris gegangen war, um am dortigen Conservatoire Komposition zu studieren, schrieb er 1900 – und da war er noch nicht mal zwanzig Jahre alt – ein Oktett, das er seinem Lehrer André Gédalge widmete. Gédalge führte mit Stolz den Spitznamen »Fugenpapst«. Und offenbar hatte er großen Einfluss auf Enescu. Der beschrieb es so: »Er gab mir ein Konzept, von dem er glaubte, dass meine Natur es akzeptieren würde. Musik ist im Grunde eine Frage von musikalischen Linien, ausdrucksvolle Bestätigung dessen, was entwickelt, kontrastiert und übereinandergelegt werden kann.«

Der Ansatz war sicherlich nicht falsch. Enescu hatte als in einem kleinen moldawischen Dorf geborener Rumäne viele Schichten und Ebenen, derer er sich bedienen konnte: Balkan-Musik, orthodoxe Kirchenmusik, deutsch-österreichische Romantik, nun auch noch weiträumige Pariser Sinfonik, Impressionismus. Aber was konnte man in dieser Hinsicht von einem 19-Jährigen erwarten? »Ich zermürbte mich selbst bei dem Versuch, ein Stück Musik zusammenzusetzen, das in vier Abschnitte von solcher Länge unterteilt war, dass jeder von ihnen jeden Moment in sich zusammenzufallen drohte. Ein Ingenieur, dessen erste Hängebrücke über einen Fluss aufgebaut wird, fühlt keine größere Qual als ich beim Anblick meines Manuskriptpapiers.«

An der Schwelle eines neuen Jahrhunderts ein Schlüsselwerk mit monumentalen Dimensionen komponieren? Das brauchte man Enescu nicht zwei Mal sagen. Mit mehr als 40 Minuten Spieldauer fügt sich das Oktett problemlos in das Paris der »Grands Boulevards« und der Weltausstellung ein und kann locker mit einer Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns oder den groß angelegten Werken von César Franck mithalten.

Schon die Grundidee des Werkes ist »parisien«: die üblichen vier Sätze eines spätromantischen, kammermusikalischen Stücks – Hauptsatz, Scherzo, Adagio und Finale – sind so zusammengeschweißt, dass eine Monumentalform entsteht. Um diese Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit für Spielende und Hörende gleichermaßen verständlicher zu machen, hat Enescu das Hauptthema wie ein Motto zwischen alle Teilsätze eingeschaltet. Es schwebt über dem Ganzen und die Momente der Wiederkehr sind willkommene, poetische Haltepunkte des gesamten Oktetts.

Im Vorwort zur Partitur beschreibt es George Enescu wie folgt: »Dieses Oktett ist ein zyklisches Werk mit einer Besonderheit: in klassischer Viersätzigkeit angelegt, gehen seine vier Sätze unmittelbar ineinander über, sodass ein einziger Sinfoniesatz entsteht. Seine Abschnitte folgen den Regeln einer allerdings erheblich erweiterten Sonatenhauptsatzform.« Und damit meinte er ganze neun Themen, von denen allein sechs im einleitenden Hauptsatz aufgestellt werden. Kompositorischer Wahnsinn, wie er nur einem 19-Jährigen einfallen kann, der beim Pariser Fugenpapst studiert hatte.

Ob sich dem Oktett wirklich die Schubert- oder Brahms-Nähe ablauschen lässt, wie oftmals behauptet wird, das hängt jetzt wieder von Ihrer ganz eigenen Erwartungshaltung ab.

Es sollte zumindest lange dauern, bis das Werk schließlich aufgeführt wurde. Ursprünglich war die Premiere unmittelbar nach der Fertigstellung geplant, aber nach fünf Proben fiel das Urteil der Musizierenden dann doch eher verhalten aus. Einer soll gesagt haben: »Es ist schrecklich schön«. Ein anderer darauf: »Eher schrecklich als schön.« War wohl doch nix mit Brahms und Schubert, vielleicht eher Schönberg und Berg? Fast neun Jahre nach der Vollendung, am 15. Dezember 1909, wurde das Oktett schließlich doch uraufgeführt, von den besten zwei Streichquartetten, die Paris zu der Zeit zu bieten hatte, im Pariser Salle des Agriculteurs, den es heute nicht mehr gibt. Enescu war auch damit einverstanden, dass das Werk von einem Streichorchester gespielt wird, »solange bestimmte lyrische Passagen von Solisten gespielt werden«. In dieser Hinsicht werden die Erwartungen heute Abend jedenfalls sicher erfüllt.

Lili Boulanger: »D'un soir triste«

»Wiped out«

»Es war ihr Abschied von der Welt.« So beschrieb es JoAnn Falletta, als sie einen ersten Blick auf jene Zettel erhaschen konnte, auf denen Lili Boulanger 1918 »D’un Soir Triste« skizziert hatte. Falletta war damals, 1981, grade Dirigentin des Women’s Philharmonic in San Francisco geworden – ein Orchester, das ausschließlich Werke von Komponistinnen aus verschiedenen Jahrhunderten zur Aufführung bringen wollte. Und sie hatte nun die einmalige Gelegenheit, an Noten zu kommen, die Lilis Schwester Nadia Boulanger bis kurz vor ihrem Tod wie einen Schatz gehütet und nicht herausgegeben hatte. Falletta durfte sich Kopien machen von diesen Notenblättern, auf denen mit kaum lesbaren Strichen Töne notiert worden waren. Und es war nicht leicht, gemeinsam mit den Musizierenden des Women’s Philharmonic aus diesen Skizzen etwas Spielbares zu machen. »Wir waren uns nie ganz sicher. Sie war offenbar sehr krank und ihre Handschrift entsprechend schwach.«

Dazu kommt die sehr eigene, fast schon eigentümliche Musiksprache Boulangers, die sich nicht mit Debussy oder Ravel vergleichen lässt und trotzdem sehr französisch klingt. Dunkle Klangfarben, dichte Harmonien, parallele Quinten, an die man sich gewöhnen muss. Und die die Arbeit des Women’s Philharmonic an »D’un Soir Triste« verkomplizierten. Am Ende veröffentlichte das Ensemble eine eigene Edition mit Korrekturen und Vermutungen, eine offizielle Ausgabe des Werks gibt es bis heute nicht. Der Komponist Johannes Schöllhorn hat nun eine Adaption für Streichorchester und Viola gemacht, die an diesem Abend uraufgeführt wird.

Lili Boulanger hatte schon früh lernen müssen, dass sie sich auf ihren Körper nicht verlassen konnte. Als kleines Mädchen entwickelte sie eine chronische Bronchialpneumonie und litt zudem an Morbus Crohn. Dass sie trotzdem schon mit zwei Jahren ihren ersten Musikunterricht bekam, lag am Stellenwert von Musik in ihrer Familie. Ihr Vater war Komponist, Dirigent und Gesangslehrer, ihre Mutter Sängerin, der Opa Cellist, die Oma erfolgreiche Mezzosopranistin, die sechs Jahre ältere Schwester Nadia ebenfalls offenbar sehr begabt.

Im Juli 1913, da war sie 19 Jahre alt, nahm Lili Boulanger am »Prix de Rome« teil – ein berühmter, inzwischen allerdings nicht mehr existenter Wettbewerb, der von der Académie des Beaux-Arts in Paris ausgeschrieben wurde. Sie gewann als erste Frau den begehrten Kompositionspreis, was damals natürlich für Aufruhr sorgte. Ihren Gewinn – ein einjähriges Stipendium für einen Aufenthalt an der Villa Medici in Rom – konnte sie dann krankheitsbedingt nur eingeschränkt einlösen. Ihr Unterricht beschränkte sich schlussendlich auf Korrespondenz, eine Reise nach Rom musste bereits nach kurzem Aufenthalt abgebrochen werden.

Lili Boulanger nahm es hin. Wie sie im Übrigen alles mit großer Geduld und fast einer Art Gleichgültigkeit hinnahm. Erwartungsmanagement deluxe. Sie arbeitete, wenn sie es konnte. Wenn nicht, dann nicht. Und so kam trotzdem eine beachtliche Anzahl an Werken für dieses knapp 24 Jahre andauernde Leben heraus. Viele, ihre Schwester Nadia eingeschlossen, ließen sich zu Gedanken wie »Was wäre gewesen, wenn …« hinreißen. Lili Boulanger selbst war erhaben über diese Art des Gedankenspiels.

1917, da ging es ihr deutlich schlechter, machte sie sich Notizen für ein Duo (Klavier und Geige), übertrug es dann in ein Trio aus Flöte, Violine und Klavier, bevor sie erst die Geige strich und dann doch ein Stück für Orchester draus machte. Dies war das Schwesterwerk zu »D’un Soir Triste« mit dem komplementären Titel »D’un matin de printemps«. Wo Schatten ist, ist immer auch Licht. Das wusste sie sehr gut. Ein Requiem, mit dem Boulanger danach immerhin noch begann, musste ihre Schwester Nadia aufschreiben, da Lili nicht mehr über die erforderlichen Kräfte verfügte. Fertig wurde es nicht, Lili Boulanger starb am 15. März 1918.

Béla Bartók: Divertimento für Streichorchester

»Trade-off«

Béla Bartók hatte sich – vermutlich ganz unabsichtlich – nach einer erfolgreichen Karrierephase von 1907 bis 1930 in ein kleines Abhängigkeitsnetz aus Erwartungen und finanziellen Gegenleistungen laviert. Als rein ungarischer Komponist wollte er inzwischen nicht mehr verstanden werden; seine Forschungen auf dem Gebiet der Musikethnologie hatten ihm gezeigt, dass ein nationalistisches, abgrenzendes Verhalten nie zielführend ist. Nun war es aber genau das, sein ungarischer Volkston, der nicht nur von ihm erwartet wurde, sondern der ihm auch finanziellen Erfolg brachte.

Da kam Paul Sacher grade zur rechten Zeit. Das Herz dieses Schweizers aus sehr reichem Haus schlug für Musik, er hatte das Basler Kammerorchester gegründet und bereits viele Komponisten in Form von Auftragswerken für das Ensemble, dem er als Dirigent vorstand, unterstützt. Jetzt, im Sommer 1936, fragte Sacher Bartók das erste Mal. Und Béla Bartók lieferte ein echtes Meisterwerk: die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. Ein bisschen ungarische Bauernmusik auch hier und da mal zu hören, im Grunde aber ein avantgardistisches Stück, dessen Rhythmus einen nicht sofort gedanklich auf einen ungarischen Bauernmarkt teleportierte.

Zwei Jahre später fragte Sacher erneut. Dieses Mal sollte es etwas für eine reine Streicherbesetzung sein und bitte technisch nicht ganz so schwierig wie die vorangegangenen Auftragswerke. In seinem Basler Kammerorchester spielten schließlich zum Großteil engagierte Laien. Paul Sacher hatte inzwischen eine gewisse Erwartungshaltung und gab ungewohnt genaue Kompositionsanweisungen. Ein »Divertimento« sollte es sein.

Divertimenti kennt man vor allem aus der Wiener Klassik: heiterer Grundton, mehrere Sätze, tanzartiger Charakter. Das war Bartók natürlich nicht gänzlich neu oder fremd, trotzdem brauchte es einige Briefwechsel zwischen den beiden, bis er Sachers Wunsch genau verstand und dazu eine eigene Haltung gefunden hatte. Bartók wollte eine »Art von Concerto grosso« komponieren, im Geist eines Divertimento. Und er hatte auch eine konkrete Bitte an Sacher: Dieser sollte ihm einen guten, passenden Ort zur Verfügung stellen, an dem Bartók das Werk schreiben konnte.

Und so kam es, dass Béla Bartók im August 1939 im Sacher’schen Châlet Aellen in Saanen, im Berner Oberland zwei Wochen in Abgeschiedenheit verbrachte. An seinen Sohn schrieb er in einem Brief: »Ich fühle mich etwa wie ein Musiker aus einer alten Welt von seinem Mäzen als Gast eingeladen.« Wie wahr dieser Satz noch werden sollte, kann Bártok in diesem Moment noch gar nicht überblickt haben. Nur wenige Wochen zuvor war die faschistische, offen völkische und antisemitische Pfleilkreuzler-Partei in seiner Heimat zweistärkste Kraft geworden.

Ob der Entschluss, Ungarn in Richtung USA zu verlassen, in dieser Zeit reifte, ist nicht bekannt. Aber es waren sicherlich zwei extrem dichte und intensive Wochen, in denen Bartók das Divertimento fast wie im Wahn fertig komponierte. Das formale Vorbild eines Concerto grosso klingt vor allem in den Ecksätzen durch, der fröhlich-freundliche Tonfall eines Divertimento wird durch jazzartige »blue notes« und ein beklemmend düsteres Adagio als Mittelsatz etwas abgedunkelt.

Zwei Wochen später begann der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff Deutschlands auf Polen. Und Bartók verpasste sowohl die Uraufführung als auch eine spätere Radioübertragung seines Divertimento, weil er mitten in den Vorbereitungen für die Emigration in die USA steckte. Am 30. Oktober 1940 erreichte er unter dem Vorwand einer Konzerttournee gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der Pianistin Ditta Bartók Pásztory, New York.

Er verband diesen Schritt sicherlich mit großen Erwartungen, wurde aber bald eines Besseren belehrt. Das amerikanische Publikum verstand seine Musiksprache nicht, niemand schien sich für ihn zu interessieren. Bartók und seine Frau hielten sich mit Klavierunterricht über Wasser, er erkrankte an Leukämie. Kein Geld, kein Paul Sacher, kein Freund. Später, als dann weitere Musikschaffende Europa in Richtung USA verlassen hatten, gab es noch mal einen mini-kleinen Aufschwung für Béla Bartók in Form von Auftragswerken und Auftritten. Sein alter Bekannter Sergei Kussewizki forderte ein Orchesterwerk von ihm und so entstand Bartóks vermutlich bekannteste und erfolgreichste Komposition, das Konzert für Orchester, das am 1. Dezember 1944 vom Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Kussewizki uraufgeführt wurde.

Knapp zehn Monate später starb Béla Bártok in seiner kleinen Wohnung in Manhattan im Alter von 64 Jahren.

In einem Blog-Artikel habe ich gelesen, Erwartungsmanagement sei etwas zutiefst Deutsches, gleichzusetzen mit dem Reservierungs-Handtuch auf der Sonnenliege im Ferienclub. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel versprochen und dafür hat das Ensemble Resonanz zu viel geliefert. Dann wäre es doch immerhin erfolgreich.

Texte von Renske Steen

New Album: Enescu & Britten

Erhältlich ab 7. November bei harmonia mundi und exklusiv am Abend des Konzerts!

Vom jugendlichen Klangrausch des Enescu-Oktetts bis zu Brittens berührender Spätkomposition »Lachrymae« lassen uns das Ensemble Resonanz und Tabea Zimmermann zwei weltumfassende Werke neu entdecken – voller innerer Bewegung, zwischen Rückschau, Melancholie und Transzendenz.

Das Ensemble Resonanz und die Bratschistin Tabea Zimmermann präsentieren ihre neue Einspielung mit zwei zentralen Werken der frühen Moderne: George Enescus monumentales Streichoktett op. 7 (in der Version für Streichorchester), der Geniestreich eines 19-Jährigen aus dem Jahr 1900, sowie Benjamin Brittens »Lachrymae« für Viola und Streichorchester, eine hochverdichtete, melancholische Reflexion über ein Lied von John Dowland. Beide Werke sind im Konzertleben und auf Tonträgern zwar präsent, gehören jedoch keineswegs zum gängigen Repertoire. Enescus Oktett begeistert mit visionären Streicherklängen, die sich gleichsam an sich selbst berauschen, während Brittens Spätwerk mit dunkler Melancholie und feiner Variationskunst eine berührende Meditation über Vergänglichkeit entfaltet.

»dusk & dawn«

 
Making of: Enescu & Britten
00:00/02:08

Das Album setzt die langjährige künstlerische Verbindung von Tabea Zimmermann und dem Ensemble Resonanz fort. Während ihrer Zeit als Artist in Residence von 2013 bis 2015 legten sie gemeinsam den Grundstein für eine enge Zusammenarbeit, die bis heute lebendig ist. Zahlreiche gemeinsame Projekte – von Uraufführungen bis zu »play-and-lead«-Formaten – prägen diese Partnerschaft, darunter Werke von Enno Poppe und George Aperghis für Viola und Kammerorchester. 2020 begleitete das Ensemble zudem die Verleihung des renommierten Ernst von Siemens Musikpreises an Zimmermann.

Besetzung

Tabea Zimmermann, Viola & Leitung

Tabea Zimmermann ist eine Musikerin von außergewöhnlicher Vielseitigkeit. Als international gefragte Solistin, Kammermusikerin und Pädagogin prägt sie das Musikleben weit über das Konzertpodium hinaus. Im Zentrum ihres Schaffens steht stets die Bratsche – als Ausdruck künstlerischer Exzellenz und persönlicher Überzeugung.

Bereits mit elf Jahren debütierte die aus Südbaden stammende Musikerin in der Berliner Philharmonie. Es folgten bedeutende Wettbewerbserfolge in Genf, Paris und Budapest, ehe sie mit nur 21 Jahren zur jüngsten Professorin Deutschlands berufen wurde. Der Lehre ist sie bis heute eng verbunden – aktuell an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt sowie an der Kronberg Academy.

Ein besonderer Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit liegt auf der zeitgenössischen Musik. Zahlreiche Werke von Komponisten wie György Ligeti, Heinz Holliger, Wolfgang Rihm, Enno Poppe und Michael Jarrell wurden ihr gewidmet oder von ihr uraufgeführt. Für Zimmermann ist die Auseinandersetzung mit neuer Musik eng verknüpft mit der Weiterentwicklung klassischer Interpretationsansätze.

Biografie weiterlesen

Ensemble Resonanz

Violine
Barbara Bultmann**, Gregor Dierck*, Skaistė Dikšaitytė, Tom Glöckner, David-Maria Gramse, Corinna Guthmann, Juditha Haeberlin, Christine Krapp, Benjamin Spillner*, Swantje Tessmann*, Rebecca Beyer, Katharina Licht*

Viola
Justin Caulley*, David Schlage, Tim-Erik Winzer*, Donata Böcking, Lise Guérin

Violoncello
Saerom Park*, Jörn Kellermann, Katharina Kühl, Lea Tessmann

Kontrabass
Benedict Ziervogel*, Margherita Naldini

** Konzertmeisterin
* Stimmführer:in

In Residence in der Elbphilharmonie
Zuhause auf St. Pauli

Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. Die Programmideen der Musiker:innen setzen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Werken, dem Publikum und Geschichten, die rund um die Programme entstehen.

Das 21-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne feste:n Dirigent:in, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner:innen an Bord. Wertvolle kreative Impulse erhalten die Musiker:innen durch die langjährige Zusammenarbeit mit dem Geiger und Dirgenten Riccardo Minasi, der das Ensemble als »Principal Guest Conductor & Partner in Crime« begleitet. Enge künstlerische Partnerschaften bestehen unter anderem mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja, der Bratschistin Tabea Zimmermann, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras und der Bühnenbildnerin Annette Kurz. Eine weitere treibende Kraft ist die Zusammenarbeit mit Komponist:innen und die beständige Entwicklung neuen Repertoires.

In Hamburg bespielt das Ensemble Resonanz mit der Elbphilharmonie und dem resonanzraum St. Pauli zwei besondere und unterschiedliche Spielorte. Die Residenz an der Elbphilharmonie beinhaltet die Konzertreihe resonanzen, die seit über 20 Spielzeiten für Furore sorgt. Aber auch mit Kinderkonzerten sowie im Rahmen diverser Festivals gestaltet das Ensemble die Programmatik des Konzerthauses an der Elbe entscheidend mit und setzt Akzente für eine lebendige Präsentation klassischer und zeitgenössischer Musik.

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